Was die Werke des US-Schriftstellers T.C. Boyle betrifft, hat sich bei mir eine einfache Bewertungsformel etabliert. Es gibt von ihm (sehr viele) gute Bücher und (sehr wenige) nicht ganz so gute Bücher. Sein neuer Roman »No Way Home«, der Ende September im Hanser Verlag veröffentlicht wurde, ein halbes Jahr vor dem Erscheinen der englischsprachigen Originalausgabe, gehört für mich in die zweite Kategorie, und das schreibt hier jemand, der womöglich der zweitgrößte Boyle-Fan auf diesem Planeten ist (der größte wohnt in Luxemburg). Als solcher war es natürlich eine Freude, »No Way Home« in den Händen zu halten, zu lesen und gelesen zu haben.
Worum geht’s? Terry, ein junger Assistenzarzt aus Los Angeles, noch in Ausbildung, erbt das Haus seiner verstorbenen Mutter in Nevada. Als er sich dorthin begibt, begegnet er der attraktiven Bethany, die nach der Trennung von ihrem Freund Jesse auf der Suche nach einer Wohnung ist. Terry und Bethany verlieben sich ineinander, und sie quartiert sich – nicht ganz einvernehmlich mit Terry – in das vererbte Haus ein. So weit, so gut. Oder auch nicht. Problematisch wird es, als Jesse auftaucht, der Bethany keinesfalls aufgegeben hat. Die Verehrte kann sich nicht kompromisslos für einen von beiden entscheiden, und so entbrennt ein Drama, in dem es anfänglich »nur« um eine Frau geht, nach und nach jedoch um Leben und Tod. Mehr soll hier inhaltlich nicht verraten werden.
Wer T.C. Boyles Sprache mag bzw. die seiner Übersetzungen, seine detailreichen Exkursionen (dieses Mal unter anderem in die Welt der Medizin), seine bildhaften Beschreibungen, wird mit »No Way Home« gut unterhalten. Er schreibt, wie man es von ihm kennt und wie man ihn liebt. Er hat auch diesen Roman wieder ziemlich clever konstruiert, mit Perspektivenwechseln, Rückblenden und den für ihn typischen Cliffhangern, sodass die Geschichte bis zum Ende spannend bleibt.
Womit ich allerdings hadere und weshalb »No Way Home« für mich eher auf die Palette seiner nicht ganz so guten Romane gehört, ist die Figurenzeichnung. Dass Terry und Bethany durchweg irrationale Entscheidungen treffen, mag man irgendwie noch verstehen, denn das Handeln von Schwerverliebten ist oft irrational. Allerdings ändert sich daran während des gesamten Romans nichts, und wie es scheint, noch nicht einmal über die letzte Seite hinaus. Angesichts der lebensbedrohlichen Konflikte, die in diesem Buch geschildert werden, ist das nicht so leicht nachzuvollziehen.
Ein noch größeres Problem hatte ich mit Terrys Gegenspieler Jesse, im ersten Drittel des Buches ein aggressives, dämliches, versoffenes, sexistisches usw. Riesen-Arschloch. Zu diesem Zeitpunkt der Lektüre malt man sich schon erwartungsfroh das spektakuläre Schicksal aus, das Boyle solchen Typen in der Regel widerfahren lässt. Doch zur Mitte des Buches offenbart Jesse plötzlich eine ganz andere Seite, nämlich die eines talentierten Schriftstellers, was nach meiner bescheidenen Lebenserfahrung ein gewisses Maß an Intellekt, Einfühlungsvermögen und Selbstreflektion erfordert. Das Riesen-Arschloch und das Schriftsteller-Talent ließen sich von mir nur schwerlich in Einklang bringen.
Was außerdem auffällt: »No Way Home« ist ein Fest für Misanthropen. Wer den Gedankengängen von Terry, Bethany, Jesse und ihren wenigen Freunden folgt, fragt sich, wie diese überhaupt zueinander finden konnten. Boyles monatliche Blogbeiträge und viele seiner Social-Media-Posts haben einen ähnlichen Sound. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA setzen dem Schriftsteller zu, und seine niedergeschlagene Stimmung, die nur allzu verständlich ist, scheint sich in seinem neuen Roman verfestigt zu haben. Für jemanden mit ähnlicher Gemütslage (der Rezensent gehört dazu) mag »No Way Home« vielleicht gerade deshalb lesenswert sein. Aber man muss ins Kalkül ziehen, dass ein negatives Dauerfeuer, wie Boyle es in seiner Liebesgeschichte abbrennt, nicht jedermanns Sache ist.
Wer die Bücher von T.C. Boyle noch gar nicht kennt, sollte (mein Rat) nicht unbedingt mit »No Way Home« beginnen, sondern mit seinem vorherigen Roman »Blue Skies« oder einem seiner früheren Romane. Oder mit einem seiner letzten beiden Kurzgeschichtenbände, »Sind wir nicht Menschen« und »I Walk Between The Raindrops«, beide grandios. Wer sich damit aufgewärmt hat, wird auch »No Way Home« viel Positives abgewinnen können.
Unbedingt zu empfehlen ist, den Autor live zu erleben. Ende November kommt T.C. Boyle wieder auf Lesereise nach Deutschland und Österreich.
T.C. Boyle: No Way Home | Deutsch von Dirk van Gunsteren
Hanser 2025 | 384 Seiten | Jetzt bestellen