Rund 23 Jahre ist es jetzt her, als T.C. Boyle mit der Veröffentlichung seines Romans »Ein Freund der Erde« einen düsteren Blick in die Zukunft wagte, in das Jahr 2025. Jetzt sind wir fast dort angekommen, und man muss traurigerweise konstatieren: Gesellschaft und Klima stellen sich ziemlich genau so dar, wie Boyle es vor einem Vierteljahrhundert beschrieben hat.
Wohl auch deshalb ist sein neuer Roman »Blue Skies« mit besonderer Spannung erwartet worden. Er erschien in der Übersetzung von Dirk van Gunsteren vor wenigen Tagen, am 15. Mai, im Hanser Verlag, in etwa zeitgleich mit der englischsprachigen Originalausgabe. Wie in »Ein Freund der Erde« widmet sich T.C. Boyle darin dem Klimawandel und dem Artensterben und wie wir Menschen im Alltag damit umgehen. Nur braucht es – für uns und für den Schriftsteller – nicht mehr den Blick in die Zukunft, um den Ernst der Lage zu beschreiben – und ja, eigentlich auch zu begreifen.
»Blue Skies« spielt in der Gegenwart. Zum einen in Kalifornien, wo Dürre, Trockenheit und Waldbrände auf der Tagesordnung stehen. Hier lebt nicht nur T.C. Boyle selbst, hier leben auch seine Protagonisten Ottilie und Frank, ein älteres Ehepaar. Frank ist Arzt und steht kurz vor seinem Ruhestand. Ottilie hat sich bereits zur Ruhe gesetzt und verbringt viel Zeit damit, ein umweltbewusstes, auf Nachhaltigkeit setzendes Leben zu führen. Unter anderem indem sie mit beeindruckender Konsequenz frittierte Heuschrecken als Fleischersatz auf den Speiseplan setzt und sich als Imkerin versucht. Angetrieben wird sie dabei von ihrem Sohn Cooper, einem Entomologen (Insektenforscher), der den Glauben an eine bessere Zukunft der Menschheit, so scheint es, längst aufgegeben hat.
Der zweite Schauplatz ist das von Überschwemmungen geplagte Florida. Hierhin hat es Cat verschlagen, die Tochter von Ottilie und Frank. Sie bewohnt ein Haus direkt am Meer, das ihr Freund und künftiger Ehemann Todd von seinen Eltern geerbt hat. Todd ist Botschafter für Bacardi Rum und viel auf Partys und auf Reisen. Cat träumt von einer Zukunft als Influencerin. Um sich als solche ein markantes Profil zu geben, schafft sie sich spontan eine exotische Schlange an, einen Tigerpython, den sie sich für Selfies wie eine Stola um den Hals hängt; und als dieser Python nach kurzer Zeit aus seinem Terrarium entwischt, kauft sie sich gleich noch einen zweiten, einen größeren.
Damit fängt die Geschichte erst an. Der Kauf der Schlange setzt schnell eine Kette von unglücklichen, teils äußerst dramatischen Ereignissen in Gang, die an dieser Stelle aber nicht näher beschrieben werden sollen. Denn es würde dem Roman jene großartige Spannung nehmen, die ihn vor allem im ersten Teil auszeichnet. Man flitzt hier als Leser durch die Seiten, so ereignisreich und unterhaltsam geht es zu, und Boyle ist dabei so sarkastisch, wie vielleicht seit seinem ersten Roman »Wassermusik« nicht mehr.
Die Entscheidung Cats, sich in den Sozialen Medien als Schlangen-Lady zu inszenieren, nimmt jedenfalls kein gutes Ende (was bei Boyle nicht verwundern sollte), und auch auf der anderen Seite der USA, in Kalifornien, bei Ottilie, Frank und Cooper, läuft so einiges aus dem Ruder. Größere Feiern werden zu einem Wagnis und den Biss einer Zecke sollte man niemals auf die leichte Schulter nehmen. Aber wer ist Schuld an allem? Ist es allein das Wetter, das einfach nicht mehr so sein will wie früher?
Boyles Figuren sind sich den unheilvollen Veränderungen ihrer Zeit, unserer Zeit, durchaus bewusst, versuchen ihnen im Mikrokosmos ihres Alltags sogar entgegenzusteuern, vor allem Ottilie und Cooper. Aber soll man keine Hochzeiten mehr feiern? Nicht mehr nach Hongkong oder Florida fliegen, wenn der Arbeitgeber es fordert oder familiäre Notfälle einen dazu zwingen? Stehen wir nicht alle, die es mit dem Klimaschutz wenigstens halbwegs ernst meinen, vor solchen Fragen? Wärmepumpe, Urlaubsflieger, Grillfleisch?
»Blue Skies« bringt diese lähmende Stimmung, diese Mixtur aus Ignoranz, Sorglosigkeit, Zweifel, schlechtem Gewissen und die Ahnung, dass alles noch viel schlimmer wird, auf den Punkt, sehr anschaulich, höchst unterhaltsam und auf mehreren Ebenen. Beispielhaft jene Szene, in der sich Cooper und seine Freundin Mari einen dystopischen Film anschauen:
… über eine Welt, die so übervölkert war, dass man, um Platz zu schaffen, zum Kannibalismus übergegangen war, und in der es mit Geschlechtsorganen ausgestattete Androide gab, die ihre menschlichen Besitzer sexuell befriedigen konnten. Es war eine Komödie.
Neil Postman lässt grüßen. Immerhin, am Ende von »Blue Skies« gibt es – eher untypisch für Boyle – ein bisschen Hoffnung. Die stirbt bekanntlich zuletzt.
T.C. Boyle: Blue Skies | Deutsch von Dirk van Gunsteren
Hanser 2023 | 400 Seiten | Jetzt bestellen
Klasse Rezi, Holger!
Ich hab‘ s schon im Schrank stehen, bin mal gespannt, wann ich dazu komme, es zu lesen.
Liebe Grüße,
Frank