Ein Kurzgeschichtenband von T.C. Boyle ist wie das Album einer Lieblingsband, schrieb Marion Brasch über »Good Home«, einem älteren, 2018 veröffentlichten Erzählband von Boyle. Nicht jedes Stück sei ein Hit, aber in der Summe halte man etwas Großartiges in den Händen (aus der Erinnerung zitiert).
Natürlich lässt sich so auch die neue Short-Story-Kollektion des gefeierten kalifornischen Schriftstellers beschreiben. Sie trägt den Titel »Sind wir nicht Menschen«, erschien im Februar dieses Jahres im Hanser Verlag und enthält Geschichten, die den Originalbänden »T.C. Boyle Stories II« (2013) und »The Relive Box« (2017) entnommen wurden.
Das heißt also, ein paar Jahre haben diese neuen Erzählungen schon auf dem Buckel. Was allerdings ihren Inhalt betrifft, können sie aktueller nicht sein. Ohne Ausnahme. So beschreibt zum Beispiel die Geschichte »Der Flüchtling« auf beinahe prophetische Weise das, was wir in diesen pandemischen Tagen mit dem Coronavirus erleben. Ein an Tuberkulose erkrankter Mann wird von seinem Arzt aufgefordert, einen Mundschutz zu tragen, damit er die Menschen in seinem Umfeld nicht infiziert. Der Erkrankte, Marciano, führt aufgrund seiner mexikanischen Wurzeln ohnehin schon ein Dasein am Rande der Gesellschaft. Durch den Mundschutz fühlt er sich zusätzlich stigmatisiert und seiner Freiheit beraubt. Er ignoriert auf sträfliche Weise die ärztlichen Anweisungen, und so nimmt die Geschichte ihren boylesken Verlauf. Happy End geht anders, aber das erwartet man bei T.C. Boyle ja auch nicht wirklich.
Mein Lieblingsstück aus dem neuen Boyle-Album ist »Hell lodernd«, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass ich mich an die Entstehung dieser Geschichte erinnern kann. Die Story beruht auf wahren Begebenheiten. Sie erzählt von einem tragischen Ereignis, das sich vor einigen Jahren im Zoo von San Francisco zugetragen hat und das im Message Board von Boyles Homepage heiß diskutiert wurde. Junge Männer hatten damals offensichtlich Tiere in ihren Gehegen schikaniert und mit Gegenständen beworfen. Bei den Großkatzen blieb das nicht folgenlos. Eine Tigerin namens Tatiana konnte die sie umgebende Steinmauer überwinden. T.C. Boyle hat hier – nicht zum ersten Mal – eine Meldung aus den Randspalten der Tageszeitung gefischt und ihr mit einer ebenso fesselnden wie beklemmenden Kurzgeschichte eine große Bühne gezimmert.
Auf andere Weise faszinierten mich die Storys »Wiedererleben« und »Sind wir nicht Menschen?«. Beide Science Fiction vom Feinsten, wobei die Realitäten hier vermutlich nicht sehr weit hinterherhinken. In »Wiedererleben« missbrauchen Vater und Tochter ein Gerät, mit dem sich die schönen Augenblicke eines Lebens erneut vergegenwärtigen lassen. In »Sind wir nicht Menschen?« geht es um bizarre Haustiere, die nach den Vorlieben ihrer Besitzer gezüchtet, oder besser gesagt gestaltet wurden. Man denkt hier automatisch an VR-Brillen und die jüngsten Fortschritte in der Gentechnik und muss wieder einmal erschreckend konstatieren, dass die Zukunft nicht mehr das ist, was sie mal war.
Wenn die Geschichten aus Boyles neuem Erzählband etwas eint, dann vielleicht eine Art dystopisches Hintergrundrauschen. Bei allen Erzählungen hat man irgendwie das Gefühl, es geht dem Ende entgegen. Es wäre daher unzutreffend, »Sind wir nicht Menschen« als Lesevergnügen zu preisen. Die Geschichten stürzen einen vielmehr in tiefe Nachdenklichkeit über das, was ist und kommen könnte, und das ist ja auch nicht ganz unwichtig.
T.C. Boyle: Sind wir nicht Menschen | Deutsch von Anette Grube und Dirk van Gunsteren
Hanser 2020 | 400 Seiten | Jetzt bestellen