T.C. Boyle: Good HomeSeit mehr als 25 Jahren begleite ich die Veröffentlichungen des US-Schriftstellers T.C. Boyle. Alles, was in deutscher Sprache von ihm erschienen ist, habe ich gelesen. Eines hat sich im Laufe der Jahre geändert. Anfangs waren es eher seine Romane, die mich begeisterten: »Wassermusik« (1987), »World’s End« (1989), »Willkommen in Wellville« (1993) oder auch »Drop City« (2003). Seine frühen Short Storys las ich zwar ebenfalls mit großem Interesse, doch hielt sich meine Begeisterung hier lange Zeit in Grenzen.

Spätestens seit dem Erscheinen des Erzählbandes »Zähne und Klauen« (2008) – mit »Chicxulub« als bewegenden Höhepunkt – zieht es mich mehr zu Boyles Kurzgeschichten als zu seinen Romanen. Denn anders als auf der Langstrecke, wo Boyles Leidenschaft für die Details die Spannung gelegentlich ein wenig ausbremst (man muss das mögen), kommen seine aufmerksamen Beobachtungen in der konzentrierten Form der Kurzgeschichte äußerst wirkungsvoll zur Geltung.

So auch in seinem neuen Erzählband »Good Home«, der so neu eigentlich nicht ist. Ein Großteil der insgesamt 20 Geschichten, die diese Kollektion vereint, stammt aus »Wild Child«. Im Original erschien der Band bereits 2011. Der Hanser Verlag hatte aus dem Buch damals lediglich die Titelstory ins Deutsche übersetzen lassen und als Novelle veröffentlicht. Eine Handvoll weiterer Geschichten wurde in der Folgezeit als eBook angeboten.

Jetzt endlich, wo mit »The Relive Box« schon ein weiterer Kurzgeschichtenband von T.C. Boyle auf seine Übersetzung wartet, können wir uns auch hierzulande des kompletten Inhalts von »Wild Child« haptisch erfreuen, ergänzt um sieben weitere Erzählungen aus »Boyle Stories II« (2013). Man hängt mit den Veröffentlichungen in deutscher Sprache etwas hinterher, was bei Boyles rasantem Schreibtempo aber verzeihlich ist.

Book Trailer »Wild Child« | Directed by Jamieson Fry

Über »Good Home« schrieb Marion Brasch auf mdr Kultur, es sei »wie das Album der Lieblingsband, auf dem man auch nicht alle Songs gut findet. Die guten Songs wirken aber um so stärker.« Ein Urteil, dem ich mich gerne anschließe, wobei ich nur einen einzigen Schwachpunkt ausmachen konnte. »Hände« erzählt von einer Frau, die sich auf ungestüme Weise an einen Schönheitschirurgen heranschmeißt. Ich habe lange und erfolglos darüber gegrübelt, was den verehrten, sonst so themen- und stilsicheren Schriftsteller bei dieser ungewöhnlich platten Geschichte geritten hat. ABER: »Hände« füllt nur zehneinhalb von insgesamt 430 Buchseiten. Alle anderen Storys sind so großartig erzählt und mit so viel Tempo, dass man geradezu durch das Buch fliegt.

Vielfach liegen den Geschichten spannende Plots zugrunde. »La Conchita« zum Beispiel handelt von einem Fahrer, der ein eiligst benötigtes Spenderorgan zu überbringen hat, auf seinem Weg jedoch von einer Naturkatastrophe überrascht wird und sich zwischen zwei Möglichkeiten, Leben zu retten, entscheiden muss. »Sin Dolor« erzählt die Geschichte eines Jungen, der keinerlei Schmerz verspürt – mit bizarren Folgen. Und in »Die Lüge« greift ein junger Mann auf der Flucht vor seinem ungeliebten Job zu einer verhängnisvollen Ausrede. Seine Tochter sei gestorben, behauptet er, und verfängt sich damit in einem ziemlich makraben Gebilde von Unwahrheiten.

In anderen Erzählungen, wie »Anacapa«, wo es um einen Angelausflug vor der kalifornischen Küste geht, oder in der Weihnachtsgeschichte »Drei Viertel des Wegs zur Hölle« beleuchtet Boyle schlicht aber durchaus fesselnd die kleinen, aber feinen Abgründe unserer Gesellschaft, insbesondere der amerikanischen. Einer meiner Favoriten in »Good Home« ist »Mein Schmerz ist größer als deiner«. Denn hier greift Boyle einmal mehr die Figur des irgendwie sympathischen Losers auf, wie ich sie mit Ned Rise (»Wassermusik«) oder Charlie Ossining (»Willkommen in Wellville«) in seinen frühen Romanen kennen- und liebengelernt habe.

Der Inhalt dieser Story: Ein älterer unglücklich verliebter Mann wird auf aberwitzige Weise und wohl irrtümlich, wie es scheint, als Voyeur erwischt. Was folgt, ist ein erniedrigender und auch körperlich schmerzhafter Spießrutenlauf. Boyle erzählt hier geschickt in der Ich-Form. Und so steht man bei der Lektüre an der Seite des Gebeutelten und schließlich vor der Frage, wer am Ende den größten Schmerz zu erleiden hat. Ist es die Witwe, der nachgestellt worden ist und die auch sonst in ihrem Leben nicht mit Glück gesegnet zu sein scheint? Ist es der vermeintliche Spanner? Oder vielleicht sogar der mitfühlende, peinlich berührte Leser?

T.C. Boyle: Good Home | Deutsch von Anette Grube und Dirk van Gunsteren
Hanser 2018 | 432 Seiten | Jetzt bestellen