Unser Bücherblog ist ja, wie vielfach erwähnt, einst aus der deutschsprachigen Website über den US-Schriftsteller T.C. Boyle hervorgegangen. Daher rufen wir beim Besprechen eines neuen Buches von ihm meist laut »Erster!«. Dieses Mal gehören wir eher zu den Letzten. Das liegt zum einen daran, dass es von seinem neuen, bereits im Mai veröffentlichten Kurzgeschichtenband »I Walk Between the Raindrops« kein Vorabexemplar gab. Zum anderen wollte sich der Rezensent mit dem Lesen der insgesamt 13 neuen Storys Zeit nehmen, um jede einzelne zu genießen.
Denn: Boyle ist und bleibt ein Meister auf der literarischen Kurzstrecke. Schon seit längerem lese ich seine Short Stories mit größerer Begeisterung als seine Romane (und ich bin da nicht allein). Wobei, fast jede seiner Kurzgeschichten hätte das Potenzial für einen Roman. Was sie außerdem charakterisiert: Sie bewegen sich ausnahmslos am Puls der Zeit, zeigen oft auch auf, wie sich die Welt in der nahen Zukunft weiterentwickeln könnte. Boyle liegt (leider) oft richtig.
Erfreulich sind seine Zustandsbeschreibungen und »Prophezeiungen« bekanntlich nicht. Sie offenbaren vor allem unser gestörtes Verhältnis zur Natur (siehe »Das sind die Umstände«, »Hundelabor«) und die feinen Abgründe im menschlichen Miteinander (»I Walk Between the Raindrops«, »What’s Love Got To Do With It?«), und beim Thema KI übernimmt in der boylesken Welt schon mal das Automobil die Kontrolle über seine Fahrerin und entscheidet gegen ihren Willen, wer einsteigen darf und wer nicht (»Schlaf am Steuer«).
»Der dreizehnte Tag« reiht sich ein in meine Lieblingsgeschichten von T.C. Boyle. Er hat sie März 2020 geschrieben, kurz nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie also. Die Geschichte erzählt von den Zuständen auf einem Kreuzfahrtschiff, das die Passagiere wegen der ersten Covid-19-Infektionen an Bord für mehrere Wochen nicht verlassen dürfen, zum Schluss gar eingesperrt sind in ihren Kabinen.
Die Story liefert nicht nur ein beeindruckendes Spiegelbild unserer Gesellschaft, sondern besticht auch durch den vielgerühmten schwarzen Humor des Schriftstellers, der meines Erachtens kein wesentliches Merkmal von Boyle jüngeren Werken ist. Dafür sind die Art und Weise, wie er seine Themen behandelt, und seine literarischen Ambitionen viel zu ernst.
Wer sich selbst ein Bild von Boyles Meisterschaft im Verfassen von eindringlichen Kurzgeschichten machen möchte, liegt mit »I Walk Between the Raindrops« nicht verkehrt. Und wer wie ich größten Gefallen daran findet, kann mit den nicht weniger empfehlenswerten Bänden »Sind wir nicht Menschen«, »Good Home«, »Zähne und Klauen« oder »Schluss mit cool« ordentlich nachlegen. Und wer noch nicht überzeugt ist, findet hier weitere positive Stimmen zum Buch.
Kleine Notiz am Rande: T.C. Boyle schreibt gerade an den letzten Seiten eines neuen Romans. Der Arbeitstitel lautet »No Way Home«.
T.C. Boyle: I Walk Between the Raindrops | Deutsch von Dirk van Gunsteren und Anette Grube
Hanser 2024 | 270 Seiten | Jetzt bestellen