Einst war er an deutschen Schulen Pflichtlektüre, doch mittlerweile ist Wolfgang Borchert fast vergessen. Der tragische Schriftsteller starb am 20. November 1947 im Alter von 26 Jahren, nur einen Tag vor der Theateruraufführung seines Stücks »Draußen vor der Tür«, das ihm zu posthumer Popularität verhalf.
Einen kleinen Vorgeschmack seines späteren Ruhms hatte er dennoch, nachdem das Stück im Februar des Jahres im Rundfunk ausgestrahlt wurde. Die starke Resonanz der Hörer führte dazu, dass die Sendung viele Male wiederholt und heiß diskutiert wurde. Sein Drama konfrontierte eine kriegsmüde Bevölkerung mit einer Vergangenheit, die man allzu gern unter der Auslegware der Amnesie verschwinden lassen wollte. Kritische Stimmen wurden damals als Nestbeschmutzer verunglimpft.
Anfangs umstritten, wurde der »Trümmerliteratur«, deren vielleicht wichtigster Vertreter Borchert war, erst später die gebührende Anerkennung zuteil. 1962 landete eine Sammlung seiner Erzählungen auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste. Besonders die Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« war schließlich fester Bestandteil deutscher Schulbücher.
Weniger bekannt ist Borcherts Lyrik. Es ist Roberta Bergmann zu verdanken, dass der 1946 erschienene Band »Laterne, Nacht und Sterne. Gedichte um Hamburg« nebst weiterer Gedichte aus seinem Schaffen in einem reich illustrierten Hardcoverband neu aufbereitet wurden. Die Braunschweigerin war schon als Schülerin von Borcherts rauer Prosa beeindruckt. Seine melancholischen und lebenshungrigen Texte ließen sie nie wieder los, erklärt sie in ihrem Vorwort.
Schon beim ersten Durchblättern wird klar, dass dies ein Buch ist, in das viel Herzblut geflossen ist. Roberta Bergmann bemühte bei ihren Recherchen besonders das Borchert-Archiv, um sich in die Welt des Hanseaten hineinzudenken. Das gelingt ihr vorzüglich. Trotz vieler farbiger Akzente ist der Grundton schwarzweiß, wie das zerbombte Nachkriegsdeutschland jener Jahre. Die daraus resultierenden Kontraste bekommen den Illustrationen gut. Zusätzlich belebt die Künstlerin die Seiten, indem sie ihre Handschrift als Gestaltungselement einsetzt. Filigrane Linien stehen neben kräftigen Flächen, bei denen auch mal der nasse Pinsel aufs Papier geklatscht wird. Jede Seite überrascht mit fantasievollen Bildkompositionen.
Nach »Frühlings Erwachen« von Frank Wedekind und »Herrn Arnes Schatz« von Selma Lagerlöf ist dies Roberta Bergmanns dritter Versuch, Literatur zeichnerisch neu zu interpretieren. Während der Pandemie hatte sie die nötige Zeit, sich auf dieses Projekt zu konzentrieren; ermöglicht durch ein Corona-Sonderstipendium der Stadt Braunschweig.
Es ist ihr bislang gelungenstes Buch, denn mit den Jahren ist ihr Strich stetig entspannter geworden. Die meist doppelseitigen Bilder wirken nie gedrängt. Das erlaubt den Betrachtern viel Raum zum Träumen und lässt die Illustrationen atmen. Die Zeichnungen erhielt 2022 übrigens den »Merit Illustration Award« in der Kategorie »unpublished books« des New Yorker »3×3 Magazine«.
Über die Gedichte selbst muss man nicht viele Worte verlieren. Borcherts Themen sind universell und damit zeitlos. Sie handeln von Hamburg, dem Meer und der Liebe zum Leben, ohne dabei in Kitsch und Schwülstigkeiten zu verfallen. Statt »Ich liebe Dich« heißt es bei Borchert schlicht »ich hab dich gerne«. Während seine erste Gedichtsammlung der Nachkriegszeit entsprechend nur ein schmales Heftchen war, besticht diese edel ausgestattete Ausgabe mit Textilrücken und Lesebändchen. Es ist ein Buch, das man gern an ganz besondere Menschen verschenkt – auch wenn man es eigentlich lieber behalten würde.
Wolfgang Borchert, Roberta Bergmann: Laternenträume | Deutsch
Kunstanstifter Verlag 2024 | 192 Seiten | Jetzt bestellen