Luz, Despentes: Vernon Subutex II

Bitterste Ernüchterung stellt sich nach der Lektüre des zweiten Teils der Comic-Version von Virginie Despentes Romantrilogie »Das Leben des Vernon Subutex« ein: Die sich vermeintlich im Wandel zum Schönen befindliche Chaoswelt des Titelhelden kommt nicht ohne Abgrund aus, Charlie-Hebdo-Zeichner Luz und die Autorin sorgen im Abschluss der Geschichten für den größtmöglichen Kater. »Vernon Subutex II«, anders als bei den Romanen bereits nach zwei Ausgaben der Schlusspunkt, ist wahrhaftig kein Märchen. Das Böse gewinnt, für die Guten bleibt nur die Illusion einer mit Ach und Krach lebenswerten Nische. Erschütternd.

Es geht so märchenhaft los: Um den in Paris obdachlos lebenden Vernon Subutex herum sammeln sich im ersten Teil eine Menge Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, so gegensätzlich wie die politischen, religiösen, sexuellen, künstlerischen, finanziellen und sonstigen Ansichten und Lebensweisen, denen die Figuren entspringen, und zu Beginn des zweiten Bandes etablieren sie eine Schicksalsgemeinschaft, der man als Lesender gern ebenfalls angehören würde. Hier herrschen Empathie, Vergebung, Akzeptanz, Weiterentwicklung, Reflexion, Zusammenhalt, und das so intensiv, dass diese kritische und skeptische Gruppe sogar für einen geläuterten Ex-Nazi offen ist. Das Paradies, ausgelebt mit Tanzpartys und mit Reisen an Strände, hippiesk und traumhaft.

Doch ist auch diese Gruppe nicht davor gefeit, dem Bösen ausgesetzt zu sein, intern wie extern. So kriecht alsbald Gevatter Wurm in diesen frischen Apfel und lässt ihn bitterlich verrotten. Jener Nazi etwa bekommt von seinen früheren Gefolgsleuten auf tödliche Weise gezeigt, was es bedeutet, sich von ihnen abzuwenden – eine Erschütterung, die dem Paradies die Farben trübt, obschon sich noch während der Beisetzung die Freundin des Verstorbenen der Vernon-Gruppe anschließt, sich also dennoch Raum für Gutes zeigt. Als nächstes stirbt ein Obdachloser eines natürlichen Todes, hinterlässt unerwarteterweise einen gigantischen Lottogewinn und verführt seine bestenfalls von ihm geduldete Witwe dazu, den Freundeskreis um den Segen zu betrügen. Zersetzung setzt ein.

Tja, und dann wollen sich zwei junge Frauen aus dieser Menschengruppe an einem Regisseur dafür rächen, dass er die Mutter der einen in den Tod getrieben haben soll, und zwar, indem sie ihm ihre Vorwürfe auf seinen Rücken tätowieren. Und fortan im Untergrund leben müssen. Gewalt erzeugt Gegengewalt, es entwickelt sich eine Spirale, deren Finale den im Verwesen begriffenen Apfel mit einem Streich vom Antlitz der Erde fegt. An diesem Punkt der Handlung wünscht man sich, sich verlesen oder, sobald man feststellt, dass dies nicht der Fall ist, die Lektüre vorher abgebrochen zu haben, so kann es doch nicht weitergehen, das kann doch nicht das sein, wie diese Utopie verläuft. Ist es aber. Es ist eben kein Märchen, in dem David den Goliath besiegt. Goliath behält die Oberhand.

»Vernon Subutex II« generiert ein schwarzes Loch in der Seele der Lesenden, das man fortan mit sich herumträgt und das einiges an Kraft abverlangt, sich auf die anderen Aspekte des Buches zu fokussieren. Davon gibt es unzählige, denn das, was am ersten Comic bereits so gelungen war, setzt Luz auch hier fort. In seinem zwar unklaren, aber dennoch feinen Stil assoziiert sich Luz optisch durch den Inhalt, dass es eine Freude ist und man den Gedanken, den man bereits beim Lesen des ersten Comics hatte, erneut aufgreift: Wie konnte Despentes verschriftlicht haben, was Luz optisch darstellt? Wenn aus den Adern einer Hand ein Stadtpark mit Bäumen wird, hinter denen eine Person hervortritt: Wie geht das ausformuliert? Oder wenn sich der gepeinigte Regisseur die Anklagen mit Drachen übertätowieren lässt und sich das, was er die Leserschaft als inneren Monolog wissen lässt, in den Dekorationen des Tattoostudios wiederspiegelt? Oder wie der Soundtrack, den der Star-DJ Vernon auf seine Feiermeute loslässt, exakt die parallel verlaufenden Geschehnisse kommentiert? »Tattooed Man« von Coil ist da nur das offensichtlichste Beispiel. Von fast filmartigen Überblendungen und je nach Stimmung monochromer Farbgebung ganz abgesehen.

Despentes lässt wissen, dass sie für diesen zweiten Comicband zusammen mit Luz die Geschichte von Vernon Subutex überarbeitete. Ohne Kenntnis der Romanvorlage kann man nur raten: Die relativ direkten Analogien zum islamistischen Attentat auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo, dem Luz alias Rénard Luzier entging, weil er nicht vor Ort war, hätten sich in den erst knapp danach erschienenen Büchern durchaus bereits niedergeschlagen haben können, doch wirkt es hier wie eine – nach zwei Graphic Novels zum Thema – erneute Verarbeitung der Geschehnisse, die Luz in den Ablauf integriert. Wie überhaupt das von Anschlägen geschüttelte Frankreich – das Bataclan wuchert hier deutlich durch – mit den gesellschaftlichen Folgen aus diesem Buch nicht herauszunehmen ist. Klar ist jedenfalls, dass der zweite und dritte Roman hier zu einem einzelnen Comic komprimiert sind.

Angst überwiegt, da kann der Nachlass des zu Beginn der Geschehnisse verstorbenen Musikers Alex Bleach ein tröstlicher Soundtrack sein, so denn Vernon den ihm überlassenen USB-Stick dereinst auch außerhalb seiner DJ-Sets öffentlich machen würde. Doch das wie das Berichten über die Ereignisse überlässt er anderen, da spielen die bereits aus »Apokalypse Baby« bekannte ambivalente Privatdetektivin Hyäne und Despentes selbst eine wesentliche Rolle. Irgendwie möchte man das zweite dicke Buch hoffnungsvoll beiseitelegen, und irgendwie gelingt es dem Autorengespann sogar, ein solches Gefühl unter dem tonnenschweren Ballast der Welt hervorkriechen zu lassen. Zufriedenstellend ist das nicht im Vergleich zu den Verlusten, die man zu beklagen hat. Am Ende wiegt das ohnehin tonnenschwere Buch mindestens doppelt.

Luz & Despentes: Vernon Subutex II | Deutsch von Lilian Pithan & Claudia Steinitz
Reprodukt 2024 | 368 Seiten | Jetzt bestellen