Ein Brett in jeder Hinsicht ist die erste Graphic-Novel-Umsetzung von Virginie Despentes‘ Roman-Tryptichon »Vernon Subutex«: Inhaltlich vielschichtig, tiefschürfend und umwerfend, physisch großformatig und tonnenschwer. Auch ohne Linie Claire gelingen dem Charlie-Hebdo-Überlebenden Luz überwältigende Bilder, und Despentes‘ Vorlage deckt mit beachtlichem Detailwissen so unüberblickbar viele Aspekte des modernen urbanen Lebens ab, dass man sich bei jeder dramatischen Wendung fragt, was da denn noch kommen soll. Und das ist dann auch noch erst der erste von drei Bänden! Band zwei der Comic-Umsetzung ist in Frankreich bereits erschienen. Ein philosophischer, emotional aufwühlender Genuss!
Der Titel dieses Dreiteilers ist auch gleich der Name der Hauptfigur. Vernon erarbeitete sich über Jahrzehnte einen guten Ruf als Indie-Schallplattenladenbetreiber, doch als sich die Vinyl-Ära dem Ende neigt, gerät sein Leben aus den Fugen. Zudem stirbt mit Alex ein wichtiger Freund, der ihm noch einige USB-Sticks zukommen ließ, auf denen sich quasi Wertanlagen befinden, schließlich war Alex ein berühmter und erfolgreicher Rockstar. Vernon irrt nun durch Paris, umringt von menschlichen Satelliten, von denen wahlweise er etwas erwartet, Unterschlupf und Zuwendung zumeist, oder sie von ihm, etwa Diebesgut zurück oder Infos über Alex, weil daraus ein Porträt entstehen soll. Jede Begegnung, jede Figur birgt einen Abgrund an dramatischen Geschichten, und sobald sich alle bündeln, verliert der erschütternd unbekümmerte Vernon sich selbst.
Despentes taucht tief ein in die Abgründe der Gegenwart. Ihre Figuren decken mit ihren Schicksalen das moderne mitteleuropäische Leben ab, schonungslos: häusliche und andere Gewalt, Kulturbetrieb, Drogen, Genderidentität, Migration, Social Media, Rassismus, Pornografie, Musik, Ernährung, Sinnsuche. In der Art, wie sie die Charaktere konstruiert, liegen Anklage und Empathie beieinander; einige Aspekte duldet sie offenkundig nicht, lässt das Umfeld aber mit etwas Verständnis auf die betreffenden Personen blicken, insbesondere, sobald Einsicht erfolgte. Vernons Trip durch das Leben ist ein polyrhythmischer Rausch, und den fängt Luz berauschend ein.
Luz‘ Strich ist leicht ungenau, verwaschen, aber detailreich und opulent, keine frankobelgische Linie Claire und trotzdem eine Offenbarung. Bild und Inhalt korrespondieren hier auf eine symbiotische Weise, dass man sich fragt, wie die Romanvorlage ohne die Zeichnungen jemals ausgekommen sein soll. Zwar sind viele Textpassagen direkt aus dem Buch übernommen, doch schildert Luz viele Begebenheiten so visuell assoziativ, dass man sie sich sprachlich ausformuliert nicht imaginieren kann, »Vernon Subutex« kann doch ohne die Bilder gar nicht funktionieren.
In diesem Zuge schafft Luz zahllose Lieblingsseiten, für die man das dicke, schwere Buch immer wieder aufschlagen will. Schon direkt zu Beginn, als er Vernon im Plattenladen über die stets aus der identischen Perspektive gezeichneten Wimmelbilder verteilt sagen lässt, dass der Job für ihn nur ein Übergang ist, doch anhand der wechselnden Plattencover erkennt der Fachmensch, dass dabei Zeit vergeht, man also eine Art Zeitraffer verfolgt, weil auf jedem Bild die Indie-Vinyl-Neuerscheinungen des jeweiligen Folgejahres in den Regalen stehen. Das muss man natürlich im Blut haben, um die Passage überhaupt zu begreifen. Fachwissen vergleichbarer Art bringen Luz und Despentes stapelweise in der Geschichte unter, etwa, dass jemand ein Demotape seiner Band The Nazi Whores mitbringt und Vernon anerkennend einen Bezug zum Namen Joy Division herstellt. Oder dass der dänische Techno-Produzent Anders Trentemøller einmal »State Trooper« von Bruce Springsteen remixte, der nie offiziell veröffentlicht wurde. Ähnlich bewandert ist Despentes in allen anderen genannten Bereichen, die das Buch abdeckt.
Zurück zum Bild. Fantastisch ist die Seite, auf der eine Frau namens Hyäne von ihrem Motorrad absteigt: Man sieht sie in fünf Einzelschritten auf einem Bild, erst mit Helm, dann mit zurückgeworfenen Haaren, dann mit der Zigarette im Mund, dann weggedreht mit dem Zippo an der Fluppe und dann im Weggehen von hinten. Eine Dynamik in nur einem Bild, die gleichzeitig den unerbittlichen Charakter der Hyäne herausstellt. Oder die dezent explizite Sexszene zwischen Vernon und der Transsexuellen Marcia, die Luz in einer Explosion bunter Buntstifte auf schwarzem Grund ihren Höhepunkt finden lässt, weil Marcia für Vernon die emotional intensivste Begegnung ist. Oder wie Vernon in einem Café eine tätowierte Frau am Nachbartisch sieht und von Bild zu Bild zu ihr klettert und sich in ihren Tattoos verliert, während die Details ihres Körpers über die Einzelbilder hinweg im Vordergrund des Panels ihren gesamten Oberkörper ergeben. Oder wie die Hyäne sich an etwas erinnert, das als Rückblende seitenweise aus dem Rauch ihrer Zigarette dringt. Oder wie sich Vernon anhand von Plattentiteln an eine Telefonnummer erinnert, abermals zudem ein Fest für Nerds. Oder der Moment, als Vernon endgültig obdachlos ist und aus dem Zebrastreifen eine Vinylrille sowie aus einer Treppe das Cover von »Unknown Pleasures« von Joy Division wird. Oder dass Luz mit optischen Ähnlichkeiten zwischen im Detail gezeigten Gegenständen visuelle Übergänge zwischen den Zeiten oder den Situationen schafft. Wie zum Henker soll das im Buch funktioniert haben?
Als wäre das nicht genug, sind die Figuren und Biografien auch noch so komplex und ausdifferenziert ausgearbeitet. Damit bekommt die Gesellschaft einen Spiegel vors Gesicht, in dem man als Lesender nicht nur Bekannte, sondern auch sich selbst wiederfindet. Gleichzeitig deckt Despentes mit ihrem Personal philosophische Grundsatzdiskussionen ab, weil jeder Auswuchs mit einer eigenen Moral behaftet ist, die man unterschiedlich betrachten kann. Oder die Lesenden gleich mit psychologischen Erkenntnissen überrumpelt; als eine Frau dem obdachlosen Vernon Zigaretten schenkt, bevor sie in den Bus steigt, heißt es: »Das Mitleid ohne Verachtung, das er ihr einflößt, deprimiert ihn noch mehr, als wenn sie ihn angemotzt hätte.«
Trotz der Einsamkeit, die Vernon und die anderen Figuren ausstrahlen, und trotz der deprimierenden Erlebnisse und trotz der nicht wenigen traurigen Passagen macht »Vernon Subutex« in der Comicversion glücklich. Weil es so bewegend und so schön ist. Und rätselhaft: Wer ist die erzählende Person mit der Zigarette und wen spricht sie an? Warum trägt sie den Ring, den man ansonsten an Vernons Hand sieht, bis zum letzten Bild jedenfalls? Wann endlich kommt Teil 2 auf Deutsch heraus? In Frankreich liegt das Mittelteil seit Februar vor. So optisch und inhaltlich opulent, wie Teil 1 ist, kann man sich gar nicht vorstellen, was da denn noch kommen mag.
Es kommen weitere Aspekte hinzu, die dieses Werk so bedeutsam machen: Luz, geboren als Rénald Luzier, gehört, weil er verschlafen hatte, zu den Überlebenden des islamistischen Anschlags auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo. Er zeichnete das Titelbild der ersten Ausgabe nach dem Anschlag und stieg hernach bei Charlie Hebdo aus. Noch im selben Jahr, 2015, verarbeitete er die Geschehnisse in dem Buch »Catharsis«, auch »Indélébiles« (»Wir waren Charlie«) befasste sich drei Jahre später mit Charlie Hebdo. Mit »Vernon Subutex« widmet er sich nun einem zeitgenössischen Gesellschaftsroman, mit dem es Virginie Despentes 2015 gelang, einen Gegenpol zu ihrem Skandal-Image zu schaffen, das sie 1994 mit ihrem zweiten Roman sowie 2000 der Verfilmung »Baise-moi« (»Fick mich«) auslöste. Zur Verfilmung, jedoch als TV-Serie, brachte es »Vernon Subutex« 2019 ebenfalls. Die kann gar nicht besser sein als diese Graphic Novel – die ist ein Geschenk!
Luz & Despentes: Vernon Subutex | Deutsch von Lilian Pithan & Claudia Steinitz
Reprodukt 2022 | 304 Seiten | Jetzt bestellen