Virginie Despentes: Das Leben des Vernon SubutexIhm wurde mit fast fünfzig bewusst, dass er nie zuvor verliebt gewesen war. Marcia zu lieben, war eine Offenbarung, der er sich ohne jede Zurückhaltung hingab. Während sich sein Leben in ein Katastrophengebiet verwandelt hatte, fühlte er sich privilegierter denn je.

»Das Leben des Vernon Subutex« ist der erste Band einer in Frankreich bereits komplett veröffentlichten Trilogie der Schriftstellerin, Regisseurin und Feministin Virginie Despentes. Schauplatz ist Paris. Vernon Subutex besaß hier lange Zeit den Plattenladen Revolver. Nachdem er diesen schließen musste und durch den rätselhaften Selbstmord seines Freundes, dem Schnulzensänger Alex Bleach, die letzte Geldquelle versiegt ist, sitzt er von einem Tag auf den anderen auf der Straße. Das ist der Ausgangspunkt für die Geschichte des Vernon Subutex.

Sein Leben als Katastrophengebiet zu beschreiben, trifft es gut. Und es schließt sein Umfeld mit ein. Zwar haben die vielen Bekanntschaften aus seiner erfolgreichen Zeit als Plattenverkäufer, bei denen er nach und nach – Kapitel für Kapitel – Unterschlupf sucht, alle ein Dach über dem Kopf, doch von keiner Person lässt sich sagen, dass sie mit sich und ihrem Leben im Reinen ist. Alle scheinen gefangen in ihrem eigenen kleinen, mitunter ziemlich ramponierten Kosmos.

Da haben wir den erfolglosen Drehbuchautor Xavier, den intriganten Filmproduzent Laurent Dopalet, die mysteriöse Hyäne oder den Transsexuellen Marcia und viele andere. In fast jedem Kapitel tauchen neue Figuren auf. Das ist am Anfang verwirrend, weil man als Leser nicht weiß, worauf man sich fokussieren soll und nur mühsam den Faden wiederfindet, wenn man das Buch nicht in einem Stück oder kurzen Zeitraum lesen kann.

Andererseits ist zu bewundern, wie wenig Seiten Virginie Despentes benötigt, um einen neuen Charakter vorzustellen, in der Tiefe auszuloten und für den Leser interessant zu machen. Vielleicht rührt auch daher die anfängliche Enttäuschung: Man möchte einfach wissen, wie es mit Dopalet und Co. weitergeht, statt fortlaufend auf neue Gesichter zu stoßen.

Hat man die Struktur und das Kernanliegen des Buches aber erst einmal begriffen, entwickelt sich die Geschichte zu einer äußerst erkenntnisreichen und unterhaltsamen Lektüre. Denn es geht in diesem Roman weniger um einzelne Personen als vielmehr um den bedauerlichen Zustand einer Gesellschaft voller Missgunst, Drogen, Gewalt, Besitzstandsdenken, Rassismus, radikaler politischer Ansichten und verkorkster Biografien, die bis ins Pornogewerbe hineinführen.

Sex & Drugs & Rock’n’Roll? Ja, gibt es reichlich. Aber ein romantisch verklärtes Lebensgefühl, das damit meist verbunden wird, vermittelt der Roman nicht. Es sind die beunruhigenden Veränderungen in Frankreich (und damit auch hierzulande), die Despentes mit großem Einfühlungsvermögen beleuchtet und so deren Kausalitäten sichtbar und auf bedrückende Weise nachvollziehbar macht: die zunehmende Radikalisierung, das Wutbürgertum, das Auseinanderdriften der Gesellschaft, die rasant wachsende Lücke zwischen arm und reich.

Gibt es Hoffnung? Im ersten Band nicht. Der zweite Band erscheint im Frühjahr 2018 auf deutsch und steht schon jetzt auf meiner Liste.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex | Deutsch von Claudia Steinitz
Kiepenheuer & Witsch 2017 | 400 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen