»Wasser findet immer einen Bach, in dem es fließen kann.«
Über die Probleme der Männer im Patriarchat hat Yusuf Yeşilöz mehrere Romane geschrieben. Sein Buch »Hochzeitsflug« ist unter dem Titel »Beyto« erfolgreich verfilmt worden. Inzwischen hat der kurdisch-schweizerische Autor ein neues Werk publiziert, das humorvoll von der Loyalität zwischen einer sterbenswilligen Seniorin und einer jungen Flüchtlingsfrau erzählt.
In seinem aktuellen Roman mit dem Titel »Nelkenblatt« wechselt Yusuf Yeşilöz die Perspektive und lässt ausschließlich Frauen handeln. Auseinandersetzungen zwischen den Kulturen und Generationen spart er aus und verortet sein weibliches Paradies an das Sterbebett der hochbejahrten, unnachgiebigen Elsa am Zürichsee. Ihr wird eine junge Flüchtlingsfrau und Studentin namens Pina zur Seite gestellt. Pina wurde ihr vermittelt und soll Elsa auf dem letzten Abschnitt ihres langen Lebens begleiten, in ihrem Haus wohnen, helfen und sie pflegen.
Die junge Frau stammt aus dem Dorf Samhirada, das überall auf der Erde liegen könnte. Die Leser*in erfährt nur, dass der Ort 3890 Kilometer von Zürich entfernt und in keinem Atlas zu finden ist. Pina musste aus ihrem Heimatland fliehen, weil sie als Physikstudentin gegen islamische Regularien an ihrer Universität protestierte.
Wider Erwarten verstehen sich die beiden Frauen vom ersten Augenblick an. Der Autor verzichtet hier bewusst auf Spannung und setzt stattdessen auf die Poesie und das Gemeinsame dieser unfreiwilligen Verbindung. Die dritte im Bunde ist Elsas Tochter Luzia, die so eingespannt ist, dass ihr für die Mutter nur wenig Zeit bleibt. Pina bemüht sich, den strengen Vorgaben von Luzia gerecht zu werden und gleichzeitig Elsa das einsam und ruhig gewordene Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Pina hat Zeit, kann zuhören, treibt und fordert nicht. Elsa möchte mehr von Pina erfahren und das Erlebte teilen, das ihr während ihres letzten Lebensabschnitts durch den Kopf geht.
Im Verlauf erfährt die Leser*in von Elsas Mann, der trotz Trennung Teil der Familie blieb, von ihren Kindern und den schweren Zeiten in ihrem Leben. Pina berichtet von ihrer Heimat und dem Umfeld, aus dem sie fliehen musste. Schwer war für sie die Zeit, nachdem die Familie wegen der kranken Mutter aus dem Dorf in die Stadt umziehen musste. Schwer lastet der Tod der Mutter auf ihrer Seele. Während Elsa auf die Erlösung durch ihr Ableben wartet, treibt Pina die Furcht um, wieder nicht am richtigen Ort zu sein.
Leise und ohne Aufsehen beschreibt Yusuf Yeşilöz den Weg der beiden ungleichen Frauen, als wolle er keinen Staub aufwirbeln. Das schafft nur Luzia, wenn sie nach dem Rechten sieht und helfen möchte. Doch auch sie bleibt liebenswürdig. Es lähmt sie die Hilflosigkeit, ihrer Mutter beim Sterben zusehen zu müssen. Immer wieder schöpft Yeşilöz aus seinem unendlichen Schatz an orientalisch geprägten Geschichten, die starke Bilder und das eine oder andere Gleichnis zu Tage fördern.
Frauen voller Verständnis, Offenherzigkeit und Einvernehmen? Wo bleibt da die Spannung? In dem einzigartig warmherzigen Ton des Buches, hinter dem sich eine wohltuende Idylle verbirgt, in der man angesichts einer zerberstenden Welt gern noch einen Augenblick verweilen möchte.
Yusuf Yeşilöz: Nelkenblatt | Deutsch
Limmat 2021 | 160 Seiten | Jetzt bestellen
Das klingt doch sehr nach einem Buch für die Zeit zwischen den Jahren, die man selbst nutzen sollte, um zur Ruhe zu kommen, nachzudenken über das, was gewesen ist und um Kraft zu tanken für die kommende Zeit.