Ich erinnerte mich an einen Satz meines Vaters, den er oft benutzte und der mir meine Situation erklärte: »Dem Schaf geht es um das Leben und dem Metzger ums Fleisch.« Mein Vater sagte diesen Spruch jeweils, wenn ihn jemand hereinlegte oder wenn er sich ausgenützt fühlte. Jetzt passte er zu meiner verflixten Situation.
Der deutschsprachige Film- und Buchautor Yusuf Yeşilöz stammt aus einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien. Er kam 1987 in die Schweiz und lebt heute als Autor und Journalist mit seiner Familie in Winterthur. In seinem Roman »Hochzeitsflug«, erschienen im Schweizer Limmat Verlag, lässt der Titel bereits erahnen, was den Protagonisten nach seinem Flug in die Heimat erwartet.
Seit einigen Jahren liebt Beyto, der Held des Buches, Manuel. Heimlich, versteht sich. Alle Versuche, die Eltern über seine sexuellen Vorlieben zu informieren, scheiterten. Der Lebensinhalt der Familie konzentriert sich auf den Kebap-Laden in der Bischofstraße. Von dem Gewinn, den er abwirft, geht ein Teil an die Verwandtschaft im türkischen Heimatdorf. Der kärgliche tscherkessische Ort wird im Leben der Beyto-Familie hochgehalten wie ein anbetungswürdiges Kleinod. Vor lauter Stolz und Ehrfurcht spüren die Eltern nichts von den Ängsten und Wünschen ihres heranwachsenden Sohnes. Nach langer Zeit fliegt die Familie endlich wieder in diese heilige Heimat. Noch ahnt Beyto nicht, was auf ihn zukommt. Er fühlt sich wohl und genießt den fürstlichen Empfang durch die Verwandtschaft.
Yusuf Yeşilöz schildert die Traditionen und Bräuche so ausführlich und detailverliebt, dass der Leser sich beinahe in einem Märchen wähnt. Das böse Erwachen folgt mit der vorbestimmten Familiensitte: Beyto muss seine Cousine Sahar heiraten. Wie reagiert der Achtzehnjährige auf die erzwungene Heirat? Kann Beyto seine liebenswürdige Cousine einfach so als »geschändete Frau« zurücklassen? Dass er schließlich ohne weiteren Protest in die Ehe einwilligt, verunsichert den Leser. Wie kann er sich unter die Feiernden mischen, wie den Schritt in die Ehe vollziehen? Hat Beyto die Schweiz wegen des fehlenden Handy-Empfangs für drei Wochen aus seinem Kopf verbannt? Die Rückkehr in die Bischofstraße häuft weitere Probleme an.
Ein aufklärendes Gespräch mit Manuel schiebt Beyto vor sich her. Manuel fordert beharrlich, seinen Eltern über ihre Liebesbeziehung reinen Wein einzuschenken. Dass Beytos Muttersprache »für den Respekt oder die Aufrichtigkeit mindestens zehn Begriffe kannte«, jedoch »freundliche Worte über Schwule« nicht aufzuweisen hat, macht nachdenklich. Woher soll Beyto, noch nicht erwachsen und gefestigt genug, den nötigen Mut zu einem solchen Geständnis schöpfen? Den einzigen Trost findet er bei seiner Ausbildungsleiterin, die sich als junges Mädchen in einer ähnlich komplizierten Lage befand. Sie hält auch noch zu ihm, als er nach England flüchtet.
Yusuf Yeşilöz trifft den Tonfall und die Sprache seines Protagonisten glaubwürdig und mit großem Einfühlungsvermögen. Dabei schöpft er aus dem Vollen: mal lakonisch sachlich, mal waghalsig, mal mit symbolkräftigen Metaphern. Die einfache und dennoch bildhafte Sprache wird der dörflichen Kultur und ihren Ritualen ebenso gerecht wie denen, die mit den Konventionen brechen wollen. Yeşilöz verurteilt nicht, sondern beschreibt den unlösbaren Konflikt berührend und für jeden Beteiligten nachvollziehbar.
Yeşilöz‘ Buch zeigt, welche Konsequenzen Homophobie und Zwangsverheiratung für alle Beteiligten mit sich bringen. Doch wie können sich gleichgeschlechtliche Paare, die aus Migrantenfamilien stammen, behaupten und ihren Weg finden? Mit Mut zu offenen Gesprächen und der Standhaftigkeit, Kontroversen auszuhalten. Yusuf Yesilöz‘ Buch ist ein gelungener Einstieg.
Yusuf Yeşilöz: Hochzeitsflug | Deutsch
Limmat Verlag 2020 | 200 Seiten | Jetzt bestellen