Thomas Pynchon: Gegen den Tag»Vorspring und Achterleine loswerfen!«

»Frischauf jetzt … langsam und vorsichtig … sehr schön! Fertig machen zum Ablegen!«

»Windy City, wir kommen!«

»Hurra! Wir fliegen!«

Unter derlei lebhaften Ausrufen stieg das wasserstoffbetriebene Luftschiff »Inconvenience«, seine Gondel mit patriotischen Fähnchen geschmückt, an Bord eine fünfköpfige Besatzung – allesamt Mitglieder jenes berühmten, unter dem Namen »Freunde der Fährnis« bekannten aeronautischen Clubs –, zügig in den Morgen auf und wurde alsbald vom Südwind erfasst.

Der Versuch, die Geschichte auf diesen 1600 Seiten hier wiedergeben zu wollen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Handlung spielt unter anderem im Wilden Westen, in Venedig, in Göttingen, im Inneren der Erde und in einer Welt unter dem Wüstensand.

»Gegen den Tag« ist ein Abenteuerroman über eine Luftschiffbesatzung, die im Dienst einer internationalen Organisation überall auf der Welt (und darunter) ihre Einsätze fliegt. Ein Western über die vier Kinder eines ermordeten Anarchisten, die Rache an den Mördern ihres Vaters nehmen wollen. Es ist ein Spionageroman, ein Detektivroman, ein historischer Roman, ein Familienroman – Pynchon hat sich die wichtigsten Vertreter jedes Genre vorgenommen und die entsprechenden Passagen im zugehörigen Stil verfasst bzw. parodiert.

Pynchon erklärt seine Phantasiewelten nicht, vielmehr setzt er die Lektüre der jeweiligen Genre-Klassiker voraus. Auch dadurch ist »Gegen den Tag« ein Buch an dem man sich aufreiben kann, so vielfältig sind die Querverweise und Anspielungen. Stets hat man das Gefühl nur einen Bruchteil von allem zu verstehen. Das empfindet man als Herausforderung oder man gibt frustriert auf.

»Wie oft«, fuhr Lindsay Noseworth, stellvertretender Kommandant und bekannt für seine Unduldsamkeit gegen jederlei Zurschaustellung von Laxheit, fort, »hat man dich wegen regelwidriger Redeweise verwarnt?« Mit der Gewandtheit, die sich langer Übung verdankte, stellte er Darby auf den Kopf und hielt das Fliegengewicht an den Knöcheln in den leeren Raum hinaus – »terra firma« lag mittlerweile gut und gern einen Kilometer tiefer –, um ihm sodann einen Vortrag über die vielen Übel einer nachlässigen Ausdrucksweise zu halten, deren nicht geringstes darin zu sehen sei, dass sie unschwer zum Fluchen und zu noch Schlimmerem führen könne. Da jedoch Darby die ganze Zeit vor Entsetzen schrie, bleibt zweifelhaft, wie viele dieser nützlichen Anregungen tatsächlich ihren Adressaten fanden.

Der Roman ist zu lang und erschöpfend, um ihn an einen Stück zu genießen, aber in gutdosierten Häppchen bringt er den Leser über einen sehr langen Zeitraum zum Schmökern und Staunen. »Gegen den Tag« verfügt nicht mehr über die Wucht, mit der mich »V« und »Die Enden der Parabel« umgehauen und begeistert haben und aufgrund seiner Länge spürt man auch nicht die prägnante Schärfe wie bei »Die Versteigerung von No. 49« und »Vineland«. Es bleibt ein langer Trip, der Pulp-Abenteuer auf höchstem sprachlichem Niveau zelebriert. Man wird demütig angesichts dieser Sprachgewalt und Präzision.

Im Herbst 2014 soll Pynchons jüngster Roman »Bleeding Edge« auf Deutsch erscheinen. Es geht darin um das Platzen der Dotcom-Blase, den 11. September und die scheinbare Allmacht des Internets.

Thomas Pynchon: Gegen den Tag | Deutsch von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren
Rowohlt 2008 | 1.600 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen