T.C. Boyle: Sprich mit mirEs hat eine Weile gedauert, bis der Titel des neuen Romans von T.C. Boyle feststand. »The Familiar« sollte das Buch zuerst heißen, ließ sich jedoch schwerlich übersetzen. »I am Sam« lautete der zweite Vorschlag. Hat auch nicht so richtig überzeugt. Am Ende entschlossen sich die Verlage für »Talk to me« (»Sprich mit mir«), was bei den drei Optionen sicherlich am eingängigsten ist und den Inhalt des 18. Romans von Boyle am besten trifft.

Es geht dieses Mal um die Primatenforschung in den 70er Jahren, genauer gesagt: um den Schimpansen Sam, der unter der Obhut von Menschen aufwuchs und Teil eines von Professor Guy Schermerhorn geleiteten Forschungsprojekts ist, in welchem versucht wird, dem Affen das Sprechen beizubringen. Sam kann in Gebärdensprache nicht nur einen Cheeseburger bestellen, sondern auch seinen Namen sagen und noch vieles mehr. Er trinkt Wein, raucht Joints und schaut sich gern Cartoon-Serien im Fernsehen an.

Als die junge Studentin Aimee Villard eines Tages einen Auftritt von Professor Schermerhorn und Sam in der TV-Show »To Tell the Truth« (dt. »Sag die Wahrheit«) verfolgt, bietet sie sich Schermerhorn als studentische Hilfskraft an. Es entsteht eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung: Schermerhorn verliebt sich in Aimee. Das Herz der schüchternen Studentin schlägt jedoch eher und von Beginn an für den Schimpansen, und auch für Sam ist es Liebe auf den ersten Blick. Aimee wird zu seiner wichtigsten Bezugsperson. Sie teilen sich sogar kuschelnd das Bett. Soweit der erste Akt.

Dramatisch wird es, als der brutale Dr. Donald Moncrief in Erscheinung tritt. Er hatte Sam an das Forschungsprojekt verliehen, sieht darin fortan aber keinen weiteren Nutzen und fordert den Schimpansen nun zurück, um ihn in einem stinkenden Käfig lukrativeren Tierexperimenten zuzuführen. Eine vermeintlich heile Welt bricht zusammen, vor allem natürlich für Sam, der bisher nur die Annehmlichkeiten des menschlichen Daseins kennengelernt hat und nun schonungslos – von einen Tag auf den anderen – die grausamen Qualen eines Versuchstiers erleiden muss, umgeben von kreischenden Artgenossen, die er nicht als solche begreift. Wer die Romane von T.C. Boyle kennt, wird erahnen können, wie sich die Geschichte weiterentwickelt.

In der Beziehung zwischen Mensch, Tier und Natur wirft T.C. Boyle in »Sprich mit mir« eine Reihe essenzieller Fragen auf. Wie nahe stehen uns Primaten als die evolutionsbiologisch nächsten Verwandten? Wie sollten wir mit ihnen und anderen Tieren, auch den domestizierten, umgehen? Was darf die Wissenschaft? Und inwieweit müssen wir uns selbst hinterfragen, wenn wir Hund, Katze und andere geliebte Haustiere auf kurioseste Weise vermenschlichen?

Die Älteren hierzulande werden sich sicher noch an die TV-Shows von Joachim »Blacky« Fuchsberger erinnern und an den Schimpansen Charly. Oder an Serien wie Ronny‘s Popshow. Spätestens nach der Lektüre von »Sprich mit mir« wirken diese Erinnerungen höchst befremdlich.

Vielleicht liegt es daran, dass Boyle in kleinen Kapiteln die Perspektive des Schimpansen einnimmt. Das hätte gewaltig in die Hose gehen können, weil hier die Grenzen zur Unglaubwürdigkeit und Absurdität gefährlich nahe sind, und weil damit das geistige Innenleben eines Tieres einmal mehr auf eine menschliche Ebene transportiert wird, was der Roman insgesamt doch so eindrucksvoll in Frage stellt.

Boyle meistert diese Aufgabe, indem er die Sam-Kapitel kurzhält, sich auf das Wesentliche konzentriert und all jene Begriffe in Großbuchstaben hervorhebt, die Sam in Gebärdensprache beherrscht. Vielleicht lassen sich die Probleme in der Beziehung zwischen Mensch und Tier für uns nur auf diese Weise anschaulich und wirkungsvoll beschreiben.

Die Geschichte von Sam steht klar im Mittelpunkt des Romans. Dennoch lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die anderen Protagonisten zu werfen, insbesondere auf Aimee, eine Figur, wie sie in vielen Romanen und Kurzgeschichten von Boyle zu finden ist. Aimee handelt kompromisslos, oft irrational und selbstzerstörerisch. Es fällt schwer, jede ihrer Entscheidungen nachzuvollziehen. Moralisch steht sie aber eindeutig auf der richtigen Seite. Das macht es der Leserin/dem Leser schwer, sich der Sympathie ihr gegenüber zu verweigern. Man leidet mit ihr bis zum bitteren, tief berührenden Ende, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll.

Mit Guy Schermerhorn setzt Boyle auch erneut auf den Typ »verbohrter Wissenschaftler«. Harvey Kellog (»Willkommen in Wellville«), Alfred C. Kinsey (»Dr. Sex«) und Timothy Leary (»Das Licht«) lassen grüßen.

Heute, am 25. Januar 2021, ist der neue Roman von T.C. Boyle erschienen, Monate vor Veröffentlichung der Originalausgabe bei Bloomsbury (im Mai als Taschenbuch) und Harper Collins (im September als Hardcover). Die ersten Rezensionen sind schon veröffentlicht und einstweilen voll des Lobes. Besonders zu empfehlen ist die Besprechung von Hansruedi Kugler im St. Galler Tagblatt, die er wie folgt beschließt:

»Man könnte das Ganze wie einen Unterhaltungsroman genießen – und bekommt wie so oft bei Boyle zusätzlich einen beunruhigenden zeitdiagnostischen Roman geschenkt.«

Ja, das passt.

T.C. Boyle: Sprich mit mir | Deutsch von Dirk van Gunsteren
Hanser 2021 | 352 Seiten | Jetzt bestellen