»Der Schnupfen ist besser, weil glaubhaft. Ich bin selber bereit, ihm Glauben zu schenken. Sogar in den Kategorien des Naturalismus und der naiven Glaubwürdigkeit ist das besser gelungen. Und dass ich an dieser Idee hänge, kommt einfach daher, dass ich schon immer eine manische Beziehung dazu hatte, was Unvorhergesehenes, was Koinzidenz, blinder Zufall oder Schicksal bewirken können.« (Stanislaw Lem über seinen Roman »Der Schnupfen«)
Die Werke des polnischen Autors Stanislaw Lem leben von seiner phantasievollen Sprache und dem schier unerschöpflichen Ideenreichtum. Er befasste sich überwiegend mit Science-Fiction-Themen. Kaum jemand, der »Solaris« oder die »Sterntagebücher« nicht kennt. Lems Publikationen wurden in 57 Sprachen übersetzt und mehr als 45 Millionen Mal verkauft. Als einer der meistgelesenen Science-Fiction-Autoren mochte er diese Schublade wegen seiner Vielseitigkeit nicht. Seine zahlreichen Wortspiele und -neuschöpfungen ließen die Köpfe der Übersetzer rauchen. Klaus Staemmler hat in dem vorliegenden Band ganze Arbeit geleistet, sorgt er doch mit seiner Übertragung aus dem Polnischen für anregenden und flüssigen Lesegenuss und lässt den Stern von Lems metaphernreiche Sprache leuchten.
Sich heute auf eine von seinen Zukunftsgeschichten von einst einzulassen, bedeutet vierzig Jahre später einen vermeintlichen Gegenwartsroman zu lesen. Man gerät gleich zu Beginn gemeinsam mit dem Protagonisten aus dem Roman »Der Schnupfen« mitten in einen verrückten Terroranschlag auf einem Flughafen, dessen ausgeklügelte Technik keinen Anschlag zulassen sollte. Schön, dass diese Geschichte dank der »ZEIT-Bibliothek der verschwundenen Bücher« weiterhin graue Leserzellen vor Freude hüpfen lässt. Und das wegen banaler Zufälle, die in Neapel fast ein Dutzend Kurgäste im besten Alter das Leben kosteten. Alle sind Männer, Ausländer, allein reisend, Allergiker und haben Schwefelbäder besucht. Alle litten unter Anzeichen von Wahnvorstellungen und begingen danach Selbstmord.
Der Ich-Erzähler und ehemalige Astronaut George L. Simpson (er heißt in Wirklichkeit John) schlüpft in die Rolle eines Mr. Adams und soll dessen Reise nachvollziehen. Dies bringt zunächst jedoch kein Licht ins Dunkel der mysteriösen Todesfälle. John denkt bereits ans Aufgeben. Als er in Paris den Problemanalytiker Dr. Philip Barth aufsucht, nimmt die Geschichte wieder Fahrt auf. Barth befasst sich mit der elektronischen Lösung von Kriminalfällen und erfährt von dem mysteriösen Fall. Der Leser wird immer weiter in die widersprüchlichen Tatsachen hineingezogen, sein Mitdenken wird regelrecht herausgefordert. Wer an die Grenzen seiner logischen Auffassungsgabe gerät, liest trotzdem weiter. Die harte Nuss der Aufklärung wird zum reinen Lesevergnügen, so unbefriedigend am Ende die Frage nach dem Sinn der Erkenntnissuche auch sein mag. Eine Verkettung unwahrscheinlicher Ereignisse kann mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tode führen, genügend Erprobungen vorausgesetzt. Wie viele Versuche bleiben dem ehemaligen Astronauten auf der Erkundung seiner selbst bis zur Lösung des Rätsels? Welches Risiko ist er während seiner philosophischen Erkundung der modernen Welt bereit einzugehen?
Die Auflösung des hochspannenden Krimis entpuppt sich als statistischer Zufall. Lems Sicht auf den Kosmos der technologischen Entwicklungen wirbelt die Gedankengänge des Lesers gehörig durcheinander. Als sei das Zeitgefühl ausgeschaltet, entstehen Bilder einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft im Kopf. Diese Magie ist unwiderstehlich und wird mit der schicken Ausgabe in Halbleinen mit Lesebändchen neue Anhänger generieren.
Stanislaw Lem: Der Schnupfen | Deutsch von Klaus Staemmler
Eder & Bach 2015 | 180 Seiten | Jetzt bestellen