Seit über zwanzig Jahren bin ich die feste »Freie« (wie man so schön im journalistischen Jargon sagt) der Tageszeitung Magdeburger Volksstimme. Sowohl für die überregionale Kulturseite als auch für den Schönebecker Lokalteil durfte ich bisher über viele Konzerte, Auftritte und Programme von Künstlerinnen und Künstlern, Autoren und Schauspielern Rezensionen schreiben oder sie interviewen. Etliche Begegnungen und Gespräche sind mir im Gedächtnis geblieben, so z.B. mit Manfred Krug und Uschi Brüning, Jan Josef Liefers, Albert Hammond, Ulrich Kienzle, Jaecki Schwarz, Albrecht Mayer oder Daniel Hope.

Nun also Wladimir Kaminer im Bad Salzelmener Dr.-Tolberg-Saal, einem kleinen Kurort zwanzig Kilometer südlich von Magdeburg. Für ein paar Fragen hatte ich mich zuvor über den Facebook-Manager mit ihm verabredet. Der Autor kam zehn Minuten vor Veranstaltungsbeginn. Wie sollte ich nun meine Fragen loswerden? Sah mich und gestand, dass er unser kleines Vorab-Treffen vergessen hatte. Unkompliziert bekam ich meine Auskünfte doch. Niemand hat gemerkt, dass der Abend drei Minuten später begann.

Kaminers Antworten auf Pivots Fragebogen und das Resümee der Lesung harmonieren gut. Das spricht zum einen für Pivots Menschenkenntnis, zum anderen für Waldimir Kaminers Authentizität.

»Ich war vor eineinhalb Jahren schon einmal hier«, begrüßte er das Publikum im ausverkauften Dr.-Tolberg-Saal. Die Zuschauer in den ersten Reihen reagierten mit »Ja«-Rufen oder Nicken. Kaminer sprach einen Zuschauer direkt an: »Waren Sie auch hier?« – »Ja«, kommt es aus dem Saal zurück. Kaminer: »Wo waren wir stehen geblieben?« Die Zuschauer jubelten, dabei hatte die Lesung noch gar nicht begonnen.

Um »Die Kreuzfahrer« sollte es an diesem Abend gehen. Kaminer holte aus, als befände er sich mit guten Freunden am Stammtisch. Erzählte von seiner Tochter Nicole, die gerade ihre Bachelorarbeit schreibt. Weil Papa als Lektor fungiert, erhält er regelmäßig Kapitel per E-Mail. »Ich mache lustige Geschichten daraus«, gestand der Autor. Er philosophierte über Traumländer und das Leben in der DDR, die Nachwende-Generation und den Klimawandel.

Der Zuhörer hing an seinen Lippen, quittierte jeden Überraschungseffekt mit Applaus und herzhaftem Gelächter. Kaminer schien alles und jeden aufs Korn zu nehmen. Ein Schelm, wer sich hier und da selbst ertappte. Ob große Katastrophe oder kleines Drama, man muss darüber lachen können, so seine Maxime. Auch Sohn Sebastian bekam sein Fett weg, weil der seines Erachtens »wie ein Pflasterstein in Berlin sitzt und sich nach seinem Abitur am falschen Ort sucht, … zwischen Küche und Fernsehen.« Nach Australien wolle er offensichtlich nicht. Seine 88-jährige Mutter schon, nur die könne eben nicht mehr.

Es folgte eine Geschichte aus dem Buch, an dem er gerade schreibt: »Rotkäppchen raucht auf dem Balkon«. Darin beweist er, »…dass Enkelkinder nirgendwo auf der Welt freiwillig ihre Großeltern besuchen«, auch nicht in Grimms »Rotkäppchen«. Spätestens jetzt hielt sich der letzte Griesgram den Bauch: »… das Mädchen konnte die Oma nicht vom Wolf unterscheiden, weil es sie nicht so oft gesehen hat.«

Der Saal wartete gespannt auf die Pointe, die nicht kam. Kaminer war längst abgebogen, zog über die Chats seiner Tochter im Internet her und sinnierte über ihre Offline-Desorientierung. Was für ein Entertainer, der vom Hundertsten ins Tausendste kommt und doch den Faden behält. Wird Nicole ihre Großmutter besuchen und eine halbe Stunde Rotkäppchen spielen? Wird sie ihre Oma tatsächlich fragen, warum sie so große Ohren hat? Vielleicht wird das hier irgendwann zu lesen sein.

Den üppigen Büchertisch vor dem Saal habe ich in der Pause um ein Exemplar der »Liebeserklärungen« erleichtert, mit Autogramm und Herz (nur für mich), versteht sich. Schließlich schifften »Die Kreuzfahrer« doch noch ein, begleitet vom deutschen Autor mit russischem Akzent und Fragen, die man sich in einer ruhigen Minute einmal durch den Kopf gehen lassen sollte: Was kann eine Rose gegen fünf Chinesen ausrichten? Wie ist unsere schöne Welt so schnell kaputt gegangen? Und können wir sie retten? Welche Bedeutung hat es für die gewissen Markenklamotten, an welcher Position der kleine Reiter hockt?

Der Saal lachte Tränen über die Russen und ihre Ketten und Kaminers Assoziation zum Kommunistischen Manifest. Was für ein Abend! Kaminers Gedanken sprangen hin und her. Erzählte (oder las?) er eben von der Frau, die auf ihren Angebeteten im Kleiderschrank eines Hotels wartet, ging es Sekunden später um Datingportale im Netz. Ob Lobster, Mangrovenbaum, Flamingos, die vielen Brandenburger auf einer zu kleinen Insel, »Plastik-Englisch«, kaputte Straßen – Wladimir Kaminer stellte Zusammenhänger her, an die man nicht im Traum gedacht hätte.

Der Abend endete mit einer Geschichte aus einem Buch, das noch geschrieben wird und damit, dass ich mich leise aus dem Saal schlich, um meinen Zug nach Hause zu erwischen. Was heißt schlich, ich schwebte, bleibt doch wieder eine Begegnung mit einem einzigartigen Menschen in meiner Erinnerung. Dafür bin ich sehr dankbar!

Foto: Renate Bojanowski

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