Radek Knapp: Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien»Wo immer du auch landest, kauf dir ein Heft und notier alles, was dir dort widerfährt. Auf Reisen funktioniert das Gedächtnis schlechter und die Uhren laufen viel schneller als zu hause. Mit einem Kugelschreiber und einem Notizbuch kannst du beides in Schach halten.« (Rat des Großvaters in »Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien«)

Wenn ich für unseren Blog werbe, werde ich regelmäßig gefragt, wie ich auf die Bücher komme, die ich bespreche. Manchmal wird die Suche durch kleine Erlebnisse und Geschichten unterstützt, wie zum Beispiel bei meiner neuesten Entdeckung des in Polen geborenen österreichischen Autors Radek Knapp. Seine humorvolle Art zu schreiben, begeistert mich schon einige Jahre, und auch sein neuestes Büchlein »Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien – Notizen eines Möchtegern-Österreichers«, erschienen im kleinen Wiener Amalthea Verlag, hat dieses Gefühl erneut bestärkt.

Bücher von Radek Knapp wurden mir von einem aufmerksamen Buchhändler empfohlen, als ich vor ca. zwanzig Jahren Steffen Möllers »Expedition zu den Polen« las. Sprachs und verkaufte mir Knapps »Reise nach Kalino«. Die unvergesslichen Gestalten dieses altmodisch anmutenden Detektivromans bevölkern immer noch mein literarisches Gedächtnis. Wenn ich auf der Straße Leuten mit dem Blick nach unten auf ihr Handy begegne, fallen mir sofort die Gerlans (Bezeichnung der Mobiltelefone in diesem Roman) mit ihren »sympathischen Unterbrechungen« ein.

In Radek Knapps aktueller Publikation wimmelt es nur so von solchen Ankern. Der Autor verpackt darin das Charakteristische, die Besonderheiten, Liebenswürdigkeiten und Grotesken seiner Wahlheimat mit feiner Ironie und äußerst charmant.

Amüsiert begleitet die Leser*in den Verfasser bei seinem Kampf, den Wiener Dialekt zu verstehen. Undenkbar in Deutschland, wenn jemand aus der Schlange an der Supermarktkasse rufen würde: »Mach ma endlich eine zweite Kassa auf!« Ob jemand auf die Idee käme, mit den Worten »Geh bodn!« (geh nach Hause, verschwinde) zu kontern? Vermutlich nicht. Welche Gelassenheit muss jedoch jemand ausstrahlen, der ständig den Spruch »Schau ma mal, dann wer ma sehen« auf den Lippen hat!

Während Radek Knapp im Verlauf des Büchleins mit Klischees über Österreicher und Polen gleichermaßen aufräumt, begegnet man Originalen, die im Erinnerungsvermögen einen Platz neben Privatdetektiv Julius Werkazy, Wiweka und Osmos aus Kalino einnehmen werden: Herr Oberbillig mit seiner Labradorhündin, die siebzigjährige Pensionistin Frau Milchpeter mit ihrer Katze Muschi und die Nachbarin Ines mit ihrem Kater Ford. Meine absolute Favoritin ist die charismatische Beamtin Brigitte bei den österreichischen Behörden, »…die mich mit einem einzigen Amtsstempel von einem Ausländer zu einem Beobachter ihrer Landsleute befördert hatte.«

Doch auch die leisen Momente von Radek Knapps Geschichten haben es in sich. Unter ihnen das Erlebnis mit polnischen Straßenmusikanten und die Zufallsbegegnung mit dem Stardirigenten Leonard Bernstein vor dem Wiener Musikverein. Zu guter Letzt staunt die Leser*in nicht nur über Knapps Verbindung zu dem polnischen Philosophen, Essaysten und Science-Fiction-Autoren Stanisław Lem, die durch einen seiner Gelegenheitsjobs als Heizungsableser zustande kam. Wer bekam Lems alten Schreibtisch? War das ein Omen? Warum war sein Großvater so ein kluger Mann? Knapp bleibt am Ende fast keine Antwort schuldig. Nur die, ob der Ort, an dem wir leben, auch der Ort ist, wo wir immer bleiben wollen, muss jeder für sich beantworten.

Radek Knapp: Von Zeitlupensymphonien und Marzipantragödien – Notizen eines Möchtegern-Österreichers | Deutsch
Amalthea Signum Verlag 2020 | 160 Seiten | Jetzt bestellen