Amerikanische Literatur bildet einen Schwerpunkt in unserem beschaulichen Literaturblog. Nach T.C. Boyle, Michael Chabon und Colson Whitehead habe ich für mich auf diesem Sektor einen neuen Favoriten ausgemacht: Percival Everett. Drei Werke des mehrfach preisgekrönten US-Autors habe ich inzwischen zur Hand genommen, und es war jedes Mal eine andere großartige Leseerfahrung.
Angefangen hatte es vor knapp zwei Jahren mit »Die Bäume«, eine schwarzhumorige Erzählung in bester Coen-Brothers-Manier, die mein Kollege Andreas Zwengel schneller besprechen konnte als ich. Kurz darauf folgte der Roman »James«, der die Geschichte von Huckleberry Finn neu erzählt, und zwar aus der Sicht des schwarzen Sklaven Jim. Everett erhielt hierfür zu Beginn des Jahres den Pulitzer-Preis in der Kategorie Fiction.
Gründe genug, sich als nächstes seinem Roman »Die Erschütterung« zu widmen, der bereits im Januar 2022 auf Deutsch erschien und seitdem ungelesen in meinem Bücherregal schlummerte. Nun nicht mehr.
Hauptfigur in »Die Erschütterung« ist der Paläontologe Zach Wells. Sein Leben an der Universität ist für ihn unbefriedigend, ebenso seine Ehe mit Meg. Erfüllung, so scheint es, findet er allein in der Beziehung zu seiner zwölfjährigen Tochter Sarah. Diese wird jedoch – siehe Buchtitel – tief erschüttert, als bei Sarah nach mehreren Arztbesuchen das sogenannte Batten-Syndrom diagnostiziert wird, eine neurodegenerative Erkrankung, die unter anderem zu Demenz, Seh- und Kontrollverlust führt. Unheilbar und tödlich. Viel Zeit mit seiner Tochter bleibt Zach nicht mehr, und die Zeit, die ihm bleibt, wird von Tag zu Tag schwieriger, schließlich unerträglich.
Mir geht es ähnlich wie Adam Soboczynski, der »Die Erschütterung« im März 2022 in der ZEIT besprach: Ein Buch mit einer solchen Inhaltsangabe wäre nicht meine erste Wahl, sei es (in meinem Fall), weil Schicksalsschläge dieser Art in der Literatur reichlich abgehandelt wurden und werden, weil die Thematik zu deprimierend ist oder mich einfach zu wenig anspricht, um gleich ein ganzes Buch darüber lesen zu wollen.
Jetzt habe ich es gelesen und bin froh darüber. Zwar bewegen sich zwei Drittel des Romans in der trüben, aussichtslosen Gedankenwelt des Protagonisten und beschreiben Zachs erfolglose Versuche, mit der deprimierenden Diagnose und ihren Folgen im Alltag klarzukommen, aber langweilig oder wiederholend wird Everett dabei an keiner Stelle. Die Intensität bleibt durchgehend auf einem hohen Niveau und zieht den empathischen Leser mit in den Abgrund, erst recht, wenn er wie ich eine Tochter hat, die er über alles liebt.
Hinzu kommt, dass Everett neben dem Schicksal Sarahs noch eine zweite Geschichte in seine Erzählung einwebt. Sie findet auf den ersten Seiten nur beiläufig Erwähnung, steht zum Schluss jedoch gänzlich im Fokus und gestaltet sich spannend. Sie beginnt mit einem Hilferuf, den Zach in Form einer Notiz in einer online bestellten Second-Hand-Jacke findet. Sie stammt von einer Mexikanerin, die zusammen mit anderen mexikanischen Frauen gegen ihren Willen in einer Lagerhalle festgehalten wird, im Süden der USA, in New Mexiko. Zack geht diesem Hilferuf nach einigem Zögern nach, um seinem traurigen und zunehmend zermürbenden Alltag zu entfliehen, um seinem Leben wieder einen Sinn zu geben oder vielleicht auch nur, um etwas zu kompensieren, was nicht zu kompensieren ist, den Verlust seiner Tochter.
Im August erscheint im Hanser Verlag der nächste Roman von Percival Everett auf Deutsch: »Dr. No«. Der Klappentext verspricht ein brillantes Kabinettstück mit einem Schurken, wie wir ihn aus James-Bond-Filmen kennen. Das spricht mich auf Anhieb an. Lesen werde ich es aber auch, weil der Name Percival Everett auf dem Buchdeckel steht. Mein Kollege Andreas Zwengel war schon wieder schneller und hat bereits ein Rezensionsexemplar bestellt. Ich bin gespannt.
Percival Everett: Die Erschütterung | Deutsch von Nikolaus Stingl
Hanser 2022 | 288 Seiten | Jetzt bestellen