Der Agent aus Dallas war ein Mann namens Hickory Spit, eine FBI-Legende allein deshalb, weil er der älteste aktive Agent in der Geschichte des Justizministeriums war. (…) Spit war der Überzeugung, Hoover und Eisenhower seien ein und dieselbe Person, mochte Kennedys Frisur nicht, hasste Johnsons politische Ansichten, liebte Nixon, behauptete einmal, er habe eine Kugel, auf der Jimmy Carters Name stehe, misstraute Reagan, hatte nichts übrig für George H.W. Bush, ermittelte inoffiziell gegen Clinton, hielt George W. Bush für einen Angehörigen der intellektuellen Elite, starb fast an einem Schlaganfall, als Barack Obama gewählt wurde, und war von dem aktuellen Clown restlos begeistert.
Die Südstaaten der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts: In der Kleinstadt Money werden mehrere grausam verstümmelte Leichen gefunden, die aneinander gefesselt wurden. Stadtbekannte White-Trash-Rüpel und ein unbekannter Schwarzer, dessen Leiche kurz darauf verschwindet. Auf die rätselhaften Morde folgen rasch weitere. Wieder werden die weißen Leichen zusammen mit dem unbekannten schwarzen Toten aufgefunden, der große Ähnlichkeit mit dem 1955 von Rassisten gelynchten Emmett Till hat.
Zwei schwarze Ermittler werden nach Money entsandt, um den seltsamen Fall aufzuklären, doch sie stehen vor einem Rätsel. Gegen den Widerstand örtlicher Rednecks und wenig unterstützt vom Sheriff finden sie heraus, dass die unbekannte Leiche einem Jungen ähnelt, der in den Fünfzigerjahren gelyncht wurde. Handelt es sich um späte Rache?
Mit einer klassischen Mordermittlung hat das Folgende wenig zu tun. Wer eine simple Mörderjagd erwartet, wird mindestens überrascht werden. Stattdessen eskaliert die Situation immer mehr und immer schneller. Die grausamen Morde bleiben nicht lange auf die Umgebung begrenzt, sondern weiten sich rasch auf das ganze Land aus. Die Empörung der weißen Bevölkerung wird immer größer und die Theorien über die wahren Hintergründe immer absurder.
Die beiden Ermittler allerdings lassen sich von niemandem reinreden oder einschüchtern. Souverän gehen sie ihren Weg und kommentieren alles mit beißendem Spott. Sie stellen für die weißen Bewohner eine Provokation dar und tun nichts, um dies abzumildern.
Zwei Dinge zeichnen diesen Roman aus: die wunderbar lakonischen und wirklich witzigen Dialoge und die absolute Unvorhersehbarkeit der skurrilen Geschichte. Konsequent werden bis zum Ende ständig neue Figuren eingeführt und man fragt sich während des Lesens ständig, wie diese Geschichte wohl enden wird und der Kriminalfall zu einem logischen Abschluss kommen kann. Selbst ein übernatürlicher Verlauf lässt sich nicht ausschließen, doch so einfach macht der Autor es sich nicht. »Die Bäume« wird vom Krimi zum Thriller und schließlich zur satirischen Apokalypse.
Die Beschreibung des Alltagsrassismus ist durchgehend unbehaglich. Zuerst nimmt man an, die Handlung spiele in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch dann greift die erste Figur zum Handy. Allein wie bei der Bewertung weißer und schwarzer Opfer aufgerechnet wird, lässt einen als Leser mehr als einmal nach Luft schnappen. Die bittere Rassismuskritik wird mit viel Sarkasmus vorgebracht und wirkt lange nach. Man spürt die Wut und den Frust des Autors. Er nutzt die Satire als Ventil, ohne die furchtbaren Zustände dadurch abzumildern. Schon allein der Auftritt des amerikanischen Ex-Präsidenten ist zwerchfellerschütternd, weil er in Sprache und Inhalt so perfekt getroffen ist.
Bis zuletzt spielt Everett mit Krimikonventionen und nutzt sie, um die Erwartungen der Leser zu unterlaufen. Die Geschichte macht gleich mehrere irre Wendungen und lässt sich nicht in die Karten schauen. Das mag manchmal willkürlich oder unelegant wirken, doch dafür ist das Ergebnis keine glatte, vorhersehbare Massenware. So viel Vergnügen bereitete mir zuletzt Tade Thompsons »Fern vom Licht des Himmels«, eine Mischung aus Space Opera und Whodunit-Krimi, die sich ebenfalls nicht um Regeln schert.
»Die Bäume« ist schon jetzt ein Highlight des noch jungen Lesejahres und Percival Everett ein interessanter Autor, dessen umfangreiches Werk es zu entdecken gilt. Übrigens: Die wahre Geschichte von Emmett Till läuft aktuell unter dem Titel »Till – Kampf um die Wahrheit« in den deutschen Kinos.
Percival Everett: Die Bäume | Deutsch von Nikolaus Stingl
Hanser 2023 | 368 Seiten | Jetzt bestellen