Michael Kumpfmüller: Wir GespensterSeit dem Roman »Hampels Fluchten«, der im Jahr 2000 erschien, gehört der Münchner Schriftsteller Michael Kümpfmüller zu meinen Lieblingsautoren. Dabei blieben nicht nur der Frauenheld und geniale Bettenverkäufer Heinrich Hampel, der immer wieder auf die Beine kam, in meiner Erinnerung, sondern auch die »Tage mit Ora« oder die Franz-Kafka-Hommage »Die Herrlichkeit des Lebens« (verfilmt vom Aachener Regisseur Georg Maas).

In seinem aktuellen Roman »Wir Gespenster« kann man die Spur zweier Verstorbener verfolgen, die im Jenseits sogar ein Liebespaar werden. Unabhängig vom aktuellen Geschehen in der realen Welt ordnen und durchdenken sie ihr abgelaufenes Leben oder versuchen, es nachzuvollziehen. Damit entwirft Michael Kumpfmüller ein annehmbares Modell über das Leben nach dem Tod, das sich wahrscheinlich jeder ein wenig anders vorstellt. Auch ich hoffe insgeheim, dass es existiert. Die Variante, dass Geister lachen, lieben, leiden und streiten wie wir Lebenden, zieht einen wie von selbst in den Text. Sie sitzen im Bus, suchen sich eine Bleibe, laufen durchs Kaufhaus und, man hält es nicht für möglich: sie tauschen ihre Erfahrungen in Selbsthilfegruppen mit anderen Toten aus.

Unter den Gespenstern sind auch Lilli und Andrä. Lilli wird eines Morgens im Stadtpark einer nicht näher bezeichneten Stadt tot aufgefunden. Auffällig ist ihr rotes, leuchtendes Kleid. Sie wurde mit mehreren Messerstichen getötet. Erst später erfährt man, dass sie vierzig Jahre alt und Physiotherapeutin war. Vom Täter und vom Tatmotiv keine Spur.

Anfangs schaut sie nur, ohne sich groß zu wundern, da sie ja nur schaut, am Boden die Frau sieht, um sich herum das bunte Laub, die Bäume, ein Stück Himmel ganz blau und wieder die Frau, die ohne jede Bewegung ist, wie tot, was sie nur ebenso feststellt.

Der ehemalige Kommissar Andrä kam während eines Einsatzes ums Leben. An besagtem Morgen setzt sich sein Geist in den Polizeiwagen seiner ehemaligen Kollegen und fährt mit an den Tatort. Dort sieht er die Leiche im roten Kleid und Lilli als Geist, die sich selbst als Tote anschaut. Vorsichtig nähern sich die Gespenster Andrä und Lilli einander an. Wie vor einer Milchglasscheibe beobachtet man ihr Kennenlernen, folgt ihren Gesprächen und Handlungen. Ihre erste Liebesnacht wirkt zart und unscharf.

Michael Kumpfmüller setzt seine Idee konsequent um und mutet den Leser*innen auch im Verlauf den verschwommenen Blick auf die Handelnden zu. Krimi-Feeling? Fehlanzeige! Stattdessen hauchen die Gespenster im weiteren Verlauf ihre letzte Lebenskraft aus. Anstatt zu feiern, schwindet ihr Interesse an der eigenen Vergangenheit ebenso dahin, wie das an den zurückgebliebenen lebenden Verwandten. Wer ist man, wenn man tot ist?

Kumpfmüller spielt mit den Elementen des Gespensterromans. Er lässt glaubhaft werden, was man nachvollziehen kann. Es geschieht, was das Cover des Buches bereits vermuten lässt. Ein Paar, das sich küsst, löst sich auf. Zwei konturlose Gesichtshälften, die ineinanderfließen und bald nicht mehr da sind. So verschwinden eines Tages auch die Toten in die Ewigkeit. Die Geister von Lilli und Andrä verlieren jedoch erst an Kraft, als sie glauben, sich endgültig gefunden zu haben. Zunächst büßen sie ihr Gehör ein. Welche Bedeutung hat da noch die Aufklärung des Mordfalles?

Im Reich der Gespenster geht die Schwermut um. »Die Erinnerung macht mich traurig«, gesteht Lilli. Andrä entgegnet: »Na ja schon, aber so, als wäre es die Erinnerung eines anderen, dem ich zusehe, wie er traurig ist.« Einfühlsamer und leichtfüßiger kann man nicht auf seine Endlichkeit hingewiesen werden. Unterhaltung par excellence!

Michael Kumpfmüller: Wir Gespenster | Deutsch
Kiepenheuer & Witsch 2024 | 256 Seiten | Jetzt bestellen