Michael Kumpfmüller: Tage mit OraDas Wort Wonne kam mir in den Sinn.
Ora, meine Wonne.
Wie aus dem nichts war da dieses Wort.
Es klang nach den Unbedingtheiten des Mittelalters, nach durchgeknallten Gottessuchern und Spinnern jeglicher Schattierung, etwas, das es seit Ewigkeiten nicht mehr gab, nur noch als Wort, aber siehe, hier und jetzt war es noch einmal zurückgekehrt.

So sinniert der namenlose Erzähler im aktuellen Roman von Michael Kumpfmüller, während er die gleichnamige Schlafende beobachtet. »Tage mit Ora« heißt das bei Kiepenheuer & Witsch erschienene kleine Büchlein, in dem sich die Kunstschneiderin Ora und der anonyme Protagonist auf einer Hochzeitsfeier begegnen, etwas miteinander trinken und wieder auseinander gehen.

Beide haben Erfahrungen mit gescheiterten Beziehungen, treffen sich trotzdem wieder und … gehen ein Wagnis miteinander ein: eine gemeinsame Reise entlang der Westküste der USA, um sich vielleicht auf diese Weise näher zu kommen. Ora schlägt die Route vor und orientiert sich dabei an ihrem Lieblingssong June on the West Coast von Bright Eyes. Von Norden nach Süden geht es entlang des Pazifiks von Seattle-Olympia über Winnetka und San Diego nach Mesa.

Es entwickelt sich ein unbeschwertes Roadmovie, in dem der Leser die beiden während des letzten Präsidentenwahlkampfes für dreizehn Tage begleitet. Immer die hoffnungsvolle Melancholie des Songwriters Conor Oberst im Kopf. Zwei Wochen, in denen das Paar auf Zeit wegen der ausgewählten Song-Reiseroute meist abseits der Touristenregionen anhält. Ihr Abenteuer in der nicht gewohnten Zweisamkeit fühlt sich dennoch nach Ferien an, essen und trinken sie doch gemeinsam wie Urlauber, baden, besichtigen, schlafen (ja, auch miteinander) und sind zusammen im Auto unterwegs. Der namenlose Held verliebt sich in Ora, will sie für sich gewinnen, sie behüten, trösten und sogar für sie beten.

Ora beinhaltet das hebräische Wort »Or«, das Licht, und ist dem italienischen »Oro« (Gold) nahe. Ist sie für ihn der rettende Engel, das glänzende Licht am Ende des Beziehungskisten-Tunnels? Ora öffnet sich nie ganz, lässt ihren Verehrer im Ungewissen, zieht sich immer wieder zurück. In der Nähe vom Meer fangen sie dann doch Glücksmomente ein. Wie gewonnen, so zerronnen. Engel Ora hat Flügel, entwischt ihm immer wieder, Amors Pfeil verfängt sich in seinen eigenen Gefühlen. Zukunftsaussichten? Fehlanzeige! Zuviel Porzellan ist auf beiden (Liebes-)Lebenswegen bereits zerbrochen.

Michael Kumpfmüller nimmt sich mit seiner an Metaphern reichen, wunderbar bildhaften Sprache den vielen grauen Tönen zwischen dem Beziehungsschwarz und -weiß an. Er malt die inneren Dialoge aus, zaubert mit einer ganzen Farbpalette von Stimmungsschwankungen. Der Leser weiß nun, wie man »metaphysisch trauert«, ertappt sich vielleicht selbst bei der eigenen »Verschickungsarbeit« und erkennt Ora als die »Hohepriesterin der Ambivalenz« an. Mit »Sie« angesprochen und nach seiner Meinung gefragt, kann man sich dem Geschehen nicht mehr entziehen. Und doch lässt der Autor seinem Heldenpaar genug Platz, erzählt nicht alles bis zu Ende – und das mit wohltuender Leichtigkeit und Witz.

Michael Kumpfmüller: Tage mit Ora | Deutsch
Kiepenheuer & Witsch 2018 | 192 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen