In der Vergangenheit setzte sich der Autor Michael Kumpfmüller in seinen Romanen mit berühmten Kolleg*innen auseinander – in »Die Herrlichkeit des Lebens« schwor er das letzte Lebensjahr von Franz Kafka herauf, in »Ach, Virginia« schuf er ein literarisches Porträt über Virginia Woolf auf kleinstem Raum. Sein aktueller Roman »Mischa und der Meister« ist nicht nur eine Hommage an den russischen Schriftsteller Michail Afanassjewitsch Bulgakow, sondern auch an die gesamte russische Literatur.
Der Protagonist, ein russischstämmiger Student aus Berlin namens Mischa schwärmt für ebendiese russische Literatur und möchte selbst Schriftsteller werden. Er verliebt sich in die brave Anastasia. Mit der rätselhaften Luna hingegen verbringt er nur ein paar Nächte.
Berlin, die alte Göre, erwachte und hatte schlechte Laune. Eine Gruppe lärmender Engländer mit Rollkoffern, die zu spät zu ihrem Easyjet-Flug nach Bristol aufgebrochen waren, hatte sie geweckt, oder worum immer es sich gehandelt hatte, das Geschrei einer Gebärenden im Urban-Krankenhaus, ein illegales Autorennen auf dem Ku’damm oder das Pfeifen des Windes über dem Müggelsee …
Als das verliebte Paar über Dostojewskis Geschichte vom Großinquisitor redet, ruft Anastasia göttlichen Beistand an. Dann steht er in Mischas Wohnung: leise, ohne viel Aufsehen, aber leibhaftig, mit fein getrimmtem Bart – Jeschua (so heißt er übrigens auch bei Bulgakow), der Aramäer. Er sieht aus »wie ein Hipster«. Allein seine Anwesenheit sorgt dafür, dass sich die, die ihm begegnen, positiv verändern. Plötzlich können sich feindlich gesinnte Paare rasch wieder vertragen, beim Finanzamt gehen unerwartete Zahlungen ein und der Literaturkritiker entschuldigt sich mit einem Blumenstrauß bei der Lyrikerin, deren Gedichte er zuvor verrissen hatte. Niemand vermutet jedoch Jeschua hinter dieser Glückssträhne.
In Kumpfmüllers Roman wimmelt es nur so von Anspielungen, Zitaten und Schauplätzen. Man muss sie nicht alle entschlüsseln, um sich bestens unterhalten zu fühlen. Hier eine Andeutung im Hinblick auf Dostojewski, dort ein Borschtsch. Getanzt wird zu Schostakowitschs Musik im gleichnamigen Lokal. Es ist, als sähe man einen Woody-Allen-Film. Irgendwo auf einem der wilden Feste, wo auch die Teufel in Gestalt von Zahnärzten, Steuerberatern und Malermeistern ihr Unwesen planen und treiben, in einer kleinen Ecke, entdeckt man ein wenig von sich selbst. Sieh da, Figuren so sonderbar und normal wie du und ich! Hat jemand den Pudel gesehen? Ist er schwarz oder weiß? Und was ist des Pudels Kern? Was haben die Teufel vor?
Michael Kumpfmüllers Gedankenexperiment entwickelt sich zu einer spielerischen Gesellschaftssatire, in der unsere ewige Sehnsucht nach Liebe und Erlösung nur für eine Weile gestillt wird. Es scheint, als würde man ob all der originellen Ideen und schier zahllosen Figuren den Überblick verlieren. Noch eine Anspielung. Kumpfmüllers Sprache ist leichtfüßig und sinnlich.
Irgendwann verschwindet Jeschua wieder, so unbemerkt und leise, wie er kam. Während die »alte Göre Berlin« zu Beginn noch recht mürrisch auf die Geschehnisse der Stadt blickte, stellt sie am Ende fest, dass sie sich mit Anastasia und Mischa gut unterhalten hat. Dem kann man als Leser*in nur zustimmen! Wie heißt es doch in Kurt Tucholskys Gedicht »Danach«? »Es wird nach einem Happy-End im Film jewöhnlich abjeblendt.«
…aber jetzt, da es ans Heiraten ging, würde es bald sehr langweilig und eintönig, … weshalb sie sich tunlichst bald nach jemand anderem umsehen würde müssen; hübsche kleine Geschichten wie diese gab es schließlich an jeder zweiten Ecke.
Michael Kumpfmüller: Mischa und der Meister | Deutsch
Kiepenheuer & Witsch 2022 | 368 Seiten | Jetzt bestellen