Max Barry: Die 22 Tode der Madison MayEr starrte sie an. Sie fühlte sich verpflichtet, eine Frage zu stellen. Er hatte ihr gerade erklärt, dass es eine Menge von Welten gab. Natürlich, klar. Sie hätte Fragen, wenn sie das ernst nehmen würde, wenn sich der größte Teil ihres Gehirns nicht damit beschäftigen würde, wo sich der Türgriff befand. Sie fragte: »Warum?« Er antwortete nicht, und sie überlegte, ob das vielleicht eine schlechte Frage war, aber nein, das war es nicht. Er wollte nur, dass sie von selbst auf die Antwort kam.
»In diesen … anderen Welten … sind wir da … sind wir da zusammen?«
Er lächelte betrübt und schüttelte den Kopf. Aber das war die richtige Antwort, dachte sie. Das hatte er von ihr hören wollen. »Manchmal komme ich gar nicht dazu, dich zu treffen. Manchmal treffe ich dich, aber dann klappt es nicht. Es gibt Leute, die uns auf Abstand halten wollen. Leute, die sich bewegen, so wie ich.« Er blickte wieder zu den Vorhängen. »Sie kommen näher.«

Die Immobilienmaklerin Madison May merkt bei der Hausbesichtigung sofort, dass mit ihrem aktuellen Kunden etwas nicht stimmt. Ihr Verdacht wird zur tödlichen Gewissheit. Zuerst erzählt er ihr eine verrückte Geschichte von mehreren alternativen Welten, auf denen allen sie beide existieren, und dann greift er zum Messer.

Die Journalistin Felicity wird mit dem Mordfall Madison May betraut und begegnet bald dem mysteriösen Fremden. Bei einem Handgemenge wird sie auf ein U-Bahn-Gleis gestoßen und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Doch danach scheint alles verändert zu sein. Ihre Katze ist verschwunden, ihr Freund trägt plötzlich einen Bart und ihre Kollegen in der Redaktion kennen sie nicht mehr. Felicity scheint sich in einer anderen Version ihrer Welt zu befinden und in der ist Madison May noch am Leben.

Autor Max Barry widmet sich gerne technisch-phantastischen Stoffen, meist in Form von Erfindungen und deren Auswirkungen, sowohl auf Individuen als auch auf die gesamte Gesellschaft. Spätestens mit dem mehrfachen Oscar-Gewinner »Everything Everywhere All at Once« sind Multiversen in der Popkultur angekommen und Barry findet einen gelungenen Ansatz für seine Serienkillergeschichte. Ähnlich wie Lauren Beukes, die in »Shining Girls« das Serienkillerthema mit Zeitreisen verknüpfte.

Die Reisen von Felicity in parallele Leben sind auch abseits der Kriminalgeschichte interessant, wenn sie nach und nach die Unterschiede dieser anderen Existenzen auslotet. Manchmal sind sie nur geringfügig, wie fehlende Dekorationsstücke oder veränderte Hobbys ihres Freundes, andere sind schwerwiegender, wenn wichtige Personen in ihrem Leben, sie plötzlich nicht mehr kennen, weil sie ihr zuvor nie begegnet sind.

Ähnlich ist es auch bei Madison. Die erste Version von ihr im Buch hadert mit ihrer Schauspielkarriere und tendiert eher zu dem sicheren Maklerinnenjob. In den folgenden Welten hat sie alternative Werdegänge, die häufig nur leicht von dem schon bekannten abweichen. Mal ist sie Darstellerin in Werbespots, ein anderes Mal eine berühmte Schauspielerin. Aber alle werden von demselben Mann verfolgt.

Trotz der spannenden Grundidee und einem mitreißenden Beginn hat der Roman im Mittelteil einige Längen, was auch an den männlichen Hauptfiguren liegt, die neben den gut gezeichneten Frauenfiguren doch stark abfallen. Clays Motivation für seine Morde ist zu klischeehaft und Hugo bleibt als Charakter einfach zu blass. Die Figur war für mich beim Lesen einfach nicht greifbar, obwohl sie doch zu den Hauptakteuren gehört. Aber der dramatische Showdown entschädigt für dieses Zwischentief.

Alle Bücher von Max Barry könnte man auf dieselbe Art beschreiben: Originelle Stoffe, intelligent entworfen und effektvoll umgesetzt. Geschichten, die immer auch zum Nachdenken anregen. Leider blitzt das satirische Talent von Max Barry hier eher selten auf und auch die messerscharfen Dialoge, die sein Debüt »Sirup« ausgezeichnet haben, sucht man vergebens. Die originelle Idee wird sehr konventionell umgesetzt, weshalb »Die 22 Tode der Madison May« nicht der große Knaller ist, der das Buch hätte werden können, aber die Spannung wird von Anfang bis Ende gehalten und das Interesse ermüdet nie.

Solide Unterhaltung also, die nicht enttäuscht.

Max Barry: Die 22 Tode der Madison May | Deutsch von Bernhard Kempen
Heyne 2023 | 424 Seiten | Jetzt bestellen