»Aussteigen.« Der Polizist trat von der Wagentür zurück und legte eine Hand auf den Griff seines Revolvers. Atticus stieg langsam aus. Im Stehen war er ein paar Zentimeter größer als der Polizist; als Quittung für diese Unverschämtheit wurde er umgedreht, gegen den Cadillac geschubst und grob gefilzt. »Okay«, sagte der Polizist. »Kofferraum aufmachen.«
Als Erstes durchwühlte er Atticus’ Kleidungsstücke und klopfte seinen Matchsack ab, als wäre auch der ein Schwarzer, der gegen einen Wagen gedrückt würde. Dann nahm er sich die Bücher vor und kippte die Schachtel in den Kofferraum aus. Atticus versuchte, nicht hinzusehen, sagte sich, Taschenbücher seien ja da, um schlecht behandelt zu werden, aber es war schlimm, wie wenn man mit ansehen musste, wenn Freunde zusammengeschlagen wurden.
Atticus Turner, ein schwarzer Veteran des Koreakrieges, macht sich auf die Suche nach seinem verschwundenen Vater. In einem Amerika, in dem Schwarze immer noch als Menschen zweiter Klasse betrachtet und behandelt werden. Immer auf der Hut vor schikanierenden Sheriffs wird seine Reise mehr als einmal zum gefährlichen Spießrutenlauf. Oft werden ihm Benzin, Verpflegung oder Unterkunft verwehrt, weshalb er auf die Hilfe seines Reiseführers angewiesen ist: den Safe Negro Travel Guide, in dem die Orte verzeichnet sind, die man als Schwarzer besser meidet, und solche, die man unbesorgt aufsuchen kann. Der Reiseführer wird von Atticus‘ Onkel George herausgegeben und ständig aktualisiert.
Atticus findet seinen Vater schließlich im Haus der Famile Braithwhite, wo er festgehalten wird, um Atticus anzulocken, den die dort versammelte Geheimloge für den Auserwählten hält. Doch dies ist nur das erste einer ganzen Reihe von Abenteuern, die Atticus und sein Bekanntenkreis im Folgenden bestehen müssen.
Trotz des Titels geht es in dem Buch weniger um H.P. Lovecraft und seinen Cthulhu-Mythos, als vielmehr um einen Streifzug durch die phantastische Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Viele bekannte Namen werden erwähnt, und es gibt zahlreiche literarische Anspielungen auf das Genre. Das Buch bietet ein buntes Potpourri von Schundliteraturthemen wie Geisterhäusern, Geheimlogen, Zauberern, Paralleluniversen usw., verbunden durch eine beständige Heldentruppe, die sich in den Hauptrollen abwechseln. Da es sich bei ihnen ausschließlich um Schwarze handelt, werden die Themen Rassismus und Diskriminierung durchgängig behandelt. Man bekommt einen (erschreckenden) Eindruck davon, wie es gewesen sein muss, als Schwarzer im Amerika der Fünfzigerjahre gelebt zu haben. Die ständigen Gängelungen und Demütigungen, denen schwarze Amerikaner tagtäglich ausgesetzt sind, lassen erahnen, wie bedrückend ihre Situation gewesen sein muss. Und weshalb der Safe Negro Travel Guide so wichtig war. Die Willkür, die Intoleranz, der blanke Hass, der überall herrscht, verweisen die übersinnlichen Schrecken in der Handlung auf die hinteren Plätze.
Matt Ruff soll »Lovecraft Country« zuerst als Fernsehserie geplant haben, bevor er einen Roman daraus machte, und genau so wirkt das Buch auch. Das erste längere Kapitel, in dem die wichtigsten handelnden Figuren vorgestellt werden, dient als Pilotfolge. Gefolgt von kürzeren Kapiteln, in denen eine oder mehrere der Figuren ihre Abenteuer erleben. Thematisch und inhaltlich abgeschlossen, aber von einem durchgehenden roten Faden verbunden. Als Fernsehserie betrachtet, ergibt der Aufbau des Buches erheblich mehr Sinn, denn für einen Roman wirkt die Geschichte zu episodenhaft. »Lovecraft Country« vermittelt eher das Gefühl einer Kurzgeschichtensammlung mit wiederkehrendem Personal und einem gemeinsamen Oberthema. Die Geschlossenheit eines Romans lässt das Buch jedoch vermissen, sowohl inhaltlich als auch formal.
Ruff schreibt in einem nüchternen Stil und beschränkt sich meist auf die reine Handlung. Die sprachliche Fülle, das Abschweifende und die Absurditäten seiner ersten Werke fehlen diesem Roman – und auch mir persönlich. Dafür besitzt das Buch ein ungeheures Tempo, sodass man es praktisch in einem Rutsch durchlesen kann. Trotzdem ist »Lovecraft Country« leider eines der schwächeren Bücher von Matt Ruff. Aber: Es ist ein Buch von Matt Ruff und deshalb auf jeden Fall äußerst lesenswert.
Ich schätze Ruff vor allem wegen seiner Abwechslung. Keines seiner Bücher ähnelt den vorherigen. Er nimmt sich mit jedem Buch einen anderen Zweig der phantastischen Literatur vor. Ich bin schon gespannt, um was es in seinem nächsten Werk geht, aber ich weiß jetzt schon, er wird mich damit wieder überraschen.
»Lovecraft Country« ist allerdings auch die schlimmste Cover-Entgleisung seit Pynchons »Natürliche Mängel«. In beiden Fällen wäre das deutsche Cover vielleicht nicht halb so schlimm, wenn es nicht das grandiose Original gäbe. Allein die Gestaltung der Ku-Klux-Klan-Masken als Tentakeln auf der amerikanischen Ausgabe ist phantastisch und die gesamte Aufmachung als abgenutztes Taschenbuch einfach wunderbar. In der deutschen Version wurde letzteres Element übernommen, aber es kommt leider überhaupt nicht zur Geltung.
Matt Ruff: Lovecraft Country | Deutsch von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
Hanser 2018 | 432 Seiten | Jetzt bestellen