Doc hatte auf dem Pasadena Freeway frisierte Rolls-Royce‘ voll aufgebrachter Heroindealer abgehängt, einzig darauf bedacht, mit über hundertsechzig im Nebel unbeschadet durch all die simpel konstruierten Kurven zu kommen, er war östlich des L.A. River mit nichts als einem geliehenen Afrokamm als Waffe in der Tasche in irgendwelche finsteren Gassen hineinspaziert, er war bei Gericht ein und aus gegangen, während er ein kleines Vermögen in Form von vietnamesischen Gras besessen hatte, und er war mittlerweile eigentlich überzeugt, dass die Ära des Leichtsinns hinter ihm lag, doch nun wurde er wieder schwer nervös.
Larry »Doc« Sportello ist Privatdetektiv im Los Angeles der Siebziger, ein sanftmütiger Grasraucher, der Underdogs gegen das System vertritt. Eines Tages erhält er Besuch von seiner Ex Shasta. Sie sorgt sich um ihren aktuellen Liebhaber, den Immobilienhai Mickey Wolfmann, der von seiner Frau und deren Liebhaber in eine Nervenklinik abgeschoben werden soll. Bevor Doc tätig werden kann, ist das gesamte Quartett verschwunden. Stattdessen beauftragt ihn ein zweiter Klient, Schulden aus dessen Knastzeit einzutreiben, und zwar ausgerechnet bei einem von Wolfmanns Bodyguards. Die Suche endet mit einem überraschenden Knockout und dem Erwachen neben der Leiche des Gesuchten.
Vielleicht erkärte der Zusammenprall mit einem gewöhnlichen Gegenstand auf dem Weg zu Boden die schmerzhafte Beule, die er auf seinem Kopf fand, als er schließlich aufwachte. Schneller jedenfalls, als das Personal von Medical Center »subdurales Hämatom« sagen konnte, checkte Doc, dass (…) er selbst auf dem Betonboden eines Raums lag, den er nicht wiedererkannte, was allerdings nicht für das Phänomen galt, das er nun, hoch über sich wie einen Unglück bringenden Planeten im Tageshoroskop, als das bösartig funkelnde Gesicht von Detective Lieutenant Bigfoot Bjornsen vom LAPD identifizierte.
Dies ist natürlich erst der Beginn einer turbulenten Jagd kreuz und quer durch Los Angeles. Anders als bei seinen weltumspannenden früheren Werken ist Pynchon diesmal sehr konzentriert, was Zeit, Ort und Handlung betrifft. Die Siebziger haben gerade begonnen. Die Welt kreist um Nixon, Vietnam und Charles Manson. Um Drogen und Musik. Das ARPAnet beginnt seinen Siegeszug und der Sender NBC will Raumschiff Enterprise absetzen.
Pynchon lässt diese Zeit in allen Einzelheiten auferstehen, als Kulisse für eine reinrassige Krimigeschichte. Er nutzt alle Möglichkeiten des Genre, ohne dessen Grenzen sprengen zu wollen oder es zur Parodie verkommen zu lassen. Der Fall ist originell komponiert, obwohl er aus bewährten Bestandteilen besteht. Es kommt eben immer darauf an, was man daraus macht. Pynchon destilliert aus der gesamten Kriminalliteratur ein wahres Feuerwerk an schelmischer Unterhaltung.
Doc kommt – wie sollte es bei Pynchon anders sein – einer Verschwörung auf die Spur, die irgendwie mit dem Boot »Goldener Fang« zu tun hat. Der Name soll aber auch für eine Geheimorganisation stehen, die möglicherweise aus Zahnärzten besteht. Ist ein Toter mit Bissspuren ein Hinweis oder handelt es sich doch nur um ein ein simples asiatisches Drogenkartell? Wie in jedem guten Krimi üblich, werden zahlreiche falsche Fährten gelegt, aber man sollte sich nicht darauf verlassen, dass alle am Ende wieder aufgegriffen werden.
Auch die Figuren gehören zur üblichen Besetzung von hardboiled-Krimis, sind aber pynchonesk überarbeitet. Das heißt, sie reden in halbseitigen Schachtelsätzen, singen schräge Lieder, neigen zu Drogenmissbrauch und verlieren sich in absurden Assoziationen. Dazu kommen vergleichsweise alltägliche Bedrohungen wie neonazistische Rockerbanden, Mafiosi, humorlose Cops, Drogenschmuggler und skrupellose Bauunternehmer. Und mitten drin der gutmütige Doc, den seine drogenbedingten Erinnerungslücken nicht daran hindern, im Verlauf der Handlung gleich mehrere Fälle zu lösen, die natürlich alle miteinander zusammenhängen.
Auf dem Schild an seiner Tür stand LSD ERMITTLUNGEN, wobei LSD, wie er auf die nicht eben häufigen Nachfragen erklärte, für »Lokalisierung, Sicherheitschecks, Detektei« stand. Darunter prangte die Darstellung eines riesigen, blutunterlaufenen Augapfels mit buchstäblich Tausenden von durchgeknallten Kapillaren in den psychedelischen Lieblingsfarben Grün und Magenta, mit deren detaillierter Wiedergabe Doc eine Kommune von Speedfreaks beauftragt hatte, die längst nach Sonoma abgewandert waren. Es war schon vorgekommen, dass potenzielle Klienten das Augenlabyrinth stundenlang betrachtet und darüber vergessen hatten, weshalb sie eigentlich gekommen waren.
»Natürliche Mängel« ist das witzigste und zugänglichste Buch, das Pynchon jemals geschrieben hat. Eine Krimikomödie voller Nostalgie. Leichtfüßig, beschwingt und randvoll mit Musik (was hätte es für ein Hörbuch werden können). Durch die fröhliche und durchweg sympathische Hauptfigur des Doc Sportello wirkt das Buch optimistischer als alle Vorgänger. Die Hippieideale, auf die Pynchon mit »Vineland« bereits einen Abgesang verfasst hat, existieren hier noch und stehen in voller Blüte. Zur Einstimmung auf das Lesevergnügen empfehlen sich alle Freak-Brothers-Comics, die Cheech-&-Chong-Filme, natürlich The Big Lebowski und ein ausgewogener Sixties-Soundtrack.
Wer schon immer wissen wollte, was die Fans an diesem Autor finden, kann hier einen ersten Eindruck bekommen, bevor er sich an seine Mammutwerke wie »V«, »Die Enden der Parabel« oder »Gegen den Tag« heranwagt. Wenn man natürliche Mängel bei diesem Buch finden müsste, bräuchte man allerdings nicht lange suchen. Das Cover der deutschen Ausgabe ist gegenüber dem Original so unsagbar lieb- und einfaltslos, dass man den Schutzumschlag am liebsten mit der Verpackungsfolie wegwerfen möchte.
Thomas Pynchon: Natürliche Mängel | Deutsch von Nikolaus Stingl
Rowohlt 2010 | 480 Seiten | Jetzt bestellen