Es gab eine Zeit, in der Martin Cruz Smith auch in Deutschland zu den Bestseller-Produzenten zählte. Seine erfolgreichste Figur, der Moskauer Ermittler Arkadi Renko, der sich zu Sowjetzeiten nicht nur mit Kriminellen, sondern vor allem mit dem Politbüro herumschlagen musste, war 1981 geradezu revolutionär. Zudem besaßen die Romane aufgrund ihrer vielschichtigen Charaktere nahezu literarische Qualitäten. Für westliche Leser boten sie faszinierende Einblicke in den Alltag der einstigen Sowjetunion, geschrieben mit einem Einfühlungsvermögen, das man US-Schriftstellern nie zugetraut hätte. »Gorki Park« und seine Ableger machten einen vormals anonymen Vielschreiber zum Weltstar. Arkadi Renko war der richtige Held zur richtigen Zeit. Glasnost und Perestroika waren damals in aller Munde. Die Welt blickte voller Mitgefühl auf die strauchelnde Weltmacht. Doch diese Zeit liegt lange zurück.
Nicht nur die Zeiten, sondern auch Smiths Bücher haben sich seitdem verändert. »Independence Square« (die deutsche Übersetzung lässt noch immer auf sich warten) ist wie sein Vorgänger »Die Spur des Bären« (Orig. »The Siberian Dilemma«) eher eine Novelle als ein üppiger Roman. Der Inhalt jedoch ist wie immer hochaktuell.
Sommer 2021: Während sich Russland auf den Krieg mit der Ukraine vorbereitet, ist der inzwischen etwas angegraute Arkadi Renko damit beschäftigt, Karina, die verschwundene Tochter eines Bekannten aufzuspüren. Als kurz danach Karinas Verehrer Alex und auch ihr Mentor, der Systemkritiker Leonid Lebedev ermordet werden, entdeckt Renko einen Zusammenhang. Haben die »Werwölfe«, eine nationalistische Motorradgang, damit zu tun? Auch privat steht unseren Helden einiges bevor. Bei einer ärztlichen Untersuchung muss er erfahren, an Parkinson erkrankt zu sein, was seine Ermittlungen zusätzlich erschwert. Plötzlich leidet er unter Schwindelanfällen und Halluzinationen.
Zusammen mit Karinas Mitbewohnerin Elena macht sich Renko nach Kiew auf, um mehr über die beiden Morde zu erfahren. Doch selbst hier ist ihm sein ominöser Gegner immer einen Schritt voraus. In der Krim-Stadt Sewastopol wird er schließlich Zeuge eines weiteren Attentats und selbst zu Gejagten. Kann seine Verflossene, die Journalistin Tatjana, den beiden Flüchtigen helfen?
Arkadi Renko ist ein Held, der schon immer von einer gewissen Tragik umweht war. Seinen Vorgesetzten ist der linienuntreue Querulant stets ein Dorn im Auge. Mal arbeitet er, zur Unperson geworden, auf einer schwimmenden Fischfangfabrik, dann wieder ermittelt er in der Todeszone Tschernobyls, nur um einen Roman später vom Vater seines Ziehsohnes Schenja eine Kugel in den Kopf gejagt zu bekommen. Und wenn er einmal eine neue Liebe gefunden hat, kann man sicher sein, dass sie ihn im nächsten Buch hintergeht. Martin Cruz Smith scheint eine diebische Freude daran zu haben, seinem Helden Steine in den Weg zu legen. Nun ist es also Parkinson, eine unheilbare Krankheit, die sich progressiv verschlimmert.
Für den Autor, der seit Jahrzehnten selbst an Parkinson leidet, ist jedes weitere Buch zum Kraftakt geworden, der nur mithilfe seiner Frau Em, die seine Diktate zu Papier bringt, zu bewältigen ist. Allein diese Tatsache verlangt Respekt. Parkinson ist eine grausame Heimsuchung. Irgendwann dreht sich das gesamte Leben nur noch um die Behandlung der Symptome. Für etwas anderes bleibt einfach keine Zeit. Für Smith hat das zur Folge, dass die Detailverliebtheit, mit der er einst das Leben in Russland schilderte, nun aufs Wesentliche reduziert ist. Beschreibungen und Charakterisierungen sind minimalistisch, sein Stil knapp, die Handlung gradlinig. Der Spannung tut dies dennoch keinen Abbruch.
Nur am Ende des Buchs ist man ein wenig irritiert. Das große Finale, in dem alle offenen Fragen beantwortet werden, fehlt. Wäre dies der letzte Auftritt von Arkadi Renko, wäre es ein unwürdiger Abschied. Doch keine Angst: Im Juni 2025 erscheint »Hotel Ukraine«, die Fortsetzung der Geschichte. Hoffentlich auch auf Deutsch.
Martin Cruz Smith: Independence Square | Englisch
Simon & Schuster 2023 | 272 Seiten | Jetzt bestellen