Es gibt Romanfiguren, die sind wie alte Freunde: Man freut sich, ihnen alle Jahre wieder über den Weg zu laufen, auch wenn es manchmal nichts Weltbewegendes zu erzählen gibt.
Arkadi Renko ist einer dieser alten Freunde. Früher, in den Zeiten des Kalten Krieges, war ein sowjetischer Krimi-Held für westliche Leser etwas ganz Neues. Martin Cruz Smith verstand es, seinen Lesern den Alltag in einem kommunistischen System glaubhaft wiederzugeben. Wer wusste zum Beispiel, dass man zu Breschnews Zeiten immer eine kaputte Glühbirne dabei hatte? Arkadi Renko erlebte den Zusammenbruch der Sowjetunion und den Aufstieg der russischen Oligarchen – selbstverständlich garniert mit ein paar Leichen, die bei einem guten Krimi nun mal dazugehören.
In den letzten zwei Jahrzehnten ist es stiller um ihn geworden. Die Bücher wurden immer konventioneller. Martin Cruz Smith, mittlerweile 77 Jahre alt und an Parkinson erkrankt, diktiert seine Romane nun seiner Frau. Dadurch bedingt hat sich auch sein Schreibstil geändert. Seitenlange Alltagsbeschreibungen gibt es nur noch selten. Heute konzentriert sich der Autor auf das Wesentliche. Arkadi, der weltmüde Philosoph, tritt zugunsten der Spannung immer mehr in den Hintergrund.
Im nächsten Jahr feiert Renko seinen 40. Geburtstag. Wie James Bond oder Phillip Marlowe hat auch er längst aufgehört, wie Normalsterbliche zu altern. Nach den ersten drei Büchern änderte Cruz Smith zudem sein Konzept. Renkos Vergangenheit, die fest im Kalten Krieg verankert war, wird nur noch angedeutet. Der notorische Einzelgänger bekam einen Schach spielenden Ziehsohn, einen alkoholisierten Kollegen und einen korrupten Vorgesetzten, der den Ermittler sogar nach Tschernobyl orderte, um ihn loszuwerden. Seit dem letzten Roman ist er mit der Journalistin Tatiana Petrovna liiert, die auch in seinem neuen Abenteuer eine wichtige Rolle spielt.
Tatiana schreibt im fernen Sibirien an einem Bericht über den millionenschweren Oligarchen Mikhail Kuznetzov, einen Mann mit politischen Ambitionen, der vorhat an Putins Thron zu wackeln. Doch plötzlich ist sie nicht mehr erreichbar. Als Renko in die Region geschickt wird, um den jungen Tschetschenen Aba Makhmud, der wegen Mordversuchs verurteilt werden soll, zu verhören, beschließt er der Journalistin einen Besuch abzustatten. Bald findet er sich in einem Zwist zwischen Kuznetzov und seinem Rivalen Boris Benz wieder. Dabei geht es um Mord, politische Intrigen, Sabotage und eine Bärenjagd, die in einem Fiasko mündet. Dazu muss Renko befürchten, dass Tatianas Interesse an Mikhail Kuznetzov mehr ist als nur berufliche Natur. Zum Glück steht ihm sein selbsternanntes »Faktotum« Rinchin Bolot zur Seite, ein Mann mit vielen Fähigkeiten, den er scheinbar zufällig auf dem Flug nach Sibirien kennenlernt.
Mit gewohnter Akribie schildert Cruz Smith das Leben der Menschen am Baikalsee. Wie immer bildet die Kulisse einen Teil der Handlung, die mit vielen farbenfrohen Charakteren bevölkert ist. Am Ende steht Renko unvermittelt vor einer ausweglosen Entscheidung. Es ist das titelgebende »Sibirische Dilemma« – eine Zwangslage, bei der alle Optionen ausweglos erscheinen. Nur fehlte Martin Cruz Smith offenbar die Energie, mehr aus diesem Dilemma zu machen, denn nach nur wenigen Seiten erlöst er unseren Helden aus seiner Zwangslage.
Mit 276 Seiten ist der Roman der bislang kürzeste um den Moskauer Ermittler. Auch von der literarischen Dimension früherer Bücher ist er mittlerweile weit entfernt. Dennoch ist Cruz Smith noch immer ein begnadeter Erzähler. Einmal angefangen mag man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Was fehlt, sind jedoch die nachdenklichen Passagen, die seinen Büchern ihren Reiz verliehen haben. Doch alten Freunden verzeiht man so etwas gern.
Martin Cruz Smith: The Siberian Dilemma | Englisch
Simon & Schuster 2019 | 288 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen