Und keiner, der Stanleys Filme sieht, dieses unschuldige Grinsen, diese weinerliche Flenngrimasse, keiner wird sich vorstellen können, dass er, der Schauspieler, der das unbedarfte Stan-Kind mimt, dass dieser Mensch im filmfernen Schattendasein nicht lassen kann, von der Versessenheit, Frauen zu erobern; und keiner, der diesen fetten ungelenken Thomas in seiner Kukulle sieht, diesen geschlechtslosen Mönch, der in der Schreibstube hockt, eigenem und fremdem Denken horcht, vier Sekretären gleichzeitig seine Einsichten diktiert und wie ein dicker Irrwisch von einem zum anderen wankt, um keine Sekunde seines Lebens zu vergeuden …
Zwei Männer treffen sich in absoluter Dunkelheit. Sie wissen nicht, wo sie sind, wie sie dorthin gelangten und was mit ihnen geschieht. Langsam kommen sie miteinander ins Gespräch und stellen fest, dass sie fast siebenhundert Jahre voneinander trennen. Die beiden Männer sind Stan Laurel und Thomas von Aquin. Ein Komiker des 20. Jahrhunderts und ein Gelehrter des Mittelalters.
In einem phantastischen Umfeld diskutieren zwei historische Persönlichkeiten über Gott und die Welt, in völliger Dunkelheit, in einer Röhre mit verschlossenen Enden. Als Leser hängt man schon allein deshalb am Haken des Autors, weil man erfahren möchte, was es mit diesem seltsamen Ort auf sich hat. Ob es ein Entkommen aus diesem Gefängnis gibt oder wenigstens eine Form der Erlösung. Der Leser bleibt lange Zeit genauso im Unklaren wie die beiden Protagonisten. Befinden sie sich in einer Art Zwischenstation nach dem Tod? Dem Fegefeuer? Sind sie überhaupt tot?
Umso faszinierender ist es, dass diese Frage im Verlauf des Romans immer mehr in den Hintergrund rückt. Als Leser lauscht man den Gesprächen der beiden Hauptfiguren und erfährt viel über ihr Leben. Stan Laurel reizte bereits andere Romanautoren, ihn als Figur zu verwenden. Mir fallen da spontan »Stan« von John Connolly und »Vier Hände« von Paco Ignacio Taibo II ein. Und auch Markus Orths gelingt es hervorragend, den Menschen hinter »Doof« zu porträtieren.
Über Thomas von Aquin dagegen wusste ich zuvor kaum mehr als den Namen. Er war ein Mann von großem Glauben, immensem Wissen und einem monströsen Appetit. Alles an ihm besaß ungeheure Ausmaße, nicht zuletzt sein Körper. Das Aufeinandertreffen zweier so unterschiedlicher Männer, ihre Wertvorstellungen, ihr Wissen über unsere Welt zur jeweiligen Lebenszeit, das alles macht den ungeheuren Reiz dieses Buches auf der inhaltlichen Ebene aus. Sprachlich ist das Buch ebenso ein Genuss. Das Eingangszitat bricht nur deshalb mitten im Satz ab, weil dieser noch genausolang weitergeht.
»Alpha und Omega« war meine Einstiegsdroge und ist bis heute mein Favorit, zusammen mit dem Erzählband »Irgendwann ist Schluss«. »Picknick im Dunkeln« folgt nun auf Platz drei.
Unbedingt muss ich noch die Gestaltung des Buches erwähnen, denn sie ist einfach grandios. Melone und Heiligenschein als Symbole für die beiden Protagonisten tauchen wiederholt und in unterschiedlicher Anordnung auf. Ein perfektes Gestaltungsmittel, in sehr passenden Farben umgesetzt. »Picknick im Dunkeln« ist ein wunderschönes Buch, innen wie außen.
Markus Orths: Picknick im Dunkeln | Deutsch
Hanser 2020 | 240 Seiten | Jetzt bestellen