Juli Zeh: NeujahrHenning ist Vater von zwei Kindern, verheiratet und macht zurzeit mit seiner Familie Urlaub auf Lanzarote. Kurz vor Weihnachten überfiel ihn die Idee während der Feiertage in den Süden zu fahren, um dem deutschen Winterwetter für einige Zeit zu entgehen. Nun ist Weihnachten vorbei, Silvester ebenso, und um das neue Jahr gleich mit einem guten Vorsatz zu beginnen, will er eine große Tour mit seinem Moutainbike machen.

Vom Ehrgeiz gepackt, quält er sich immer höher auf die Vulkaninsel. Die Sonne brennt vom Himmel und Henning reflektiert die letzten Tage mit seiner Familie. Was lief gut und was eher nicht? Pausen gönnt er sich kaum. Oben angekommen – völlig überanstrengt – verfällt er in einen sonderbaren Zustand. Realität und Einbildung scheinen zu verschwimmen, als er nach Hilfe suchend ein Haus am oberen Hang des Dorfes entdeckt. Plötzlich sind alle Erinnerungen wieder da und er weiß, dass er nicht zum ersten Mal an diesem Ort ist.

Er wird zurückgeworfen in seine Kindheit. Er sieht sich, seine kleine Schwester Luna, seine Mutter, die fröhlich die schwarzen Steine der Insel bemalt und seinen Vater, der draußen auf der Terrasse sitzt und raucht. Doch hier hört die Geschichte nicht auf, etwas Schreckliches ist passiert und nach und nach kehren alle Erinnerungen zurück, die er seit Kindertagen verdrängt hatte.

Manchmal glaubt er, dass mit seinem Leben etwas nicht stimmt. Vielleicht existiert hinter der Welt eine zweite, in der die Dinge eine andere Bedeutung tragen. Dann sieht er die Kinder an und glaubt zu spüren, dass etwas Böses in ihnen wohnt, etwas Teuflisches, Dämonisches, eine grinsende, wahnsinnige Fratze, die hinter ihren unschuldigen Mienen lauert.

Henning ist mit seiner Rolle völlig überfordert. Er will den gleichen Anteil an der Erziehung seiner Kinder haben wie seine Frau, ein erfolgreiches Berufsleben führen und Zeit für seine Hobbies haben. Doch er merkt wie er den Ansprüchen nicht gerecht werden kann, er bekommt immer häufiger Panikattacken und weiß sich nicht zu helfen. Es stellen sich Fragen nach Identität, Prägung und persönlichem Hintergrund, auf die Henning Schritt für Schritt Antworten findet.

Schon lange hat mich kein Buch mehr so gefesselt wie Juli Zehs »Neujahr«. Es hat einen schönen Schreibstil, interessante Charaktere und ist vor allem viel zu spannend. Ich vermeide Krimis unter anderem deshalb, weil sie meine Nerven zu sehr strapazieren. Nach dieser Logik hätte ich mich auch von »Neujahr« fernhalten sollen, aber gut, dass ich es nicht getan habe. Der Roman spielt mit den Urängsten der Kindheit und ist dadurch nur schwer zu ertragen. Bis zum Ende ist unklar, wie das Buch enden wird und ich habe auf jeder Seite mitgefiebert, wie es weitergehen wird. Auch der Ort ist gut gewählt. Klar und deutlich sehe ich die Vulkaninsel vor mir: die steilen Berge, die schwarzen, runden Steine, die zum Symbol des Romans werden und das große, spanische Haus – der Schauplatz der Geschichte.

Das Schöne an Juli Zehs Romanen ist, dass ich nie wirklich weiß, was mich erwartet. Wenn ihre Geschichten etwas gemeinsam haben, dann vielleicht, dass sie mit den menschlichen Abgründen spielen wie beispielsweise »Unterleuten« oder »Corpus Delicti«. Dieses Motiv findet sich auch in »Neujahr« wieder, wird aber wiederum anders interpretiert. Juli Zeh hat mich ein weiteres Mal überrascht. Bis zur letzten Seite wusste ich nicht, wie viel sie mir zumutet und es fiel mir unendlich schwer, zwischendurch zu pausieren.

Wer also gern abends ein bisschen zur Entspannung liest: Finger weg von »Neujahr«! Allen anderen kann ich es nur wärmstens empfehlen, Ihr werdet es nicht mehr aus der Hand legen wollen.

Juli Zeh: Neujahr | Deutsch
Luchterhand 2018 | 192 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen