Wir schreiben das 21. Jahrhundert. Die Demokratie wurde abgeschafft und durch die Methode ersetzt. Die Methode – das heißt eine Gesundheitsdiktatur, die darauf fußt, absolute Kontrolle über den einzelnen Menschen zu erlangen. Per eingebautem Chip wird von gesunder Ernährung bis hin zu ausreichend Sport jeder Schritt genaustens verfolgt, sodass sich niemand dem totalitären Überwachungssystem entziehen kann.
Was mit Freigeistern passiert, die genau dies im Sinn haben, zeigt der Fall »Moritz Holl«. Moritz Holl war Student, liebte seine Schwester und das Leben – ein Leben, das er so gestalten konnte, wie er es wollte und nicht nach den Gesetzen des Staates. Dennoch nahm er es sich auf tragische Weise selbst, als man ihn wegen einer angeblichen Vergewaltigung hinter Gitter setzte. Seine Schwester Mia, die den Lebensstil ihres Bruders bisher nur kritisch beäugt hatte, glaubt trotz eindeutiger Beweislage an seine Unschuld und beginnt zum ersten Mal, das augenscheinlich fehlerfreie System zu hinterfragen.
Sowohl das Buch als auch Mia selbst machen eine enorme Entwicklung durch. Am Anfang steht ein Staat, der auf den ersten Blick nur das beste für seine Bürger*innen will, indem er wortwörtlich jede Krankheit im Keim erstickt. Und dort steht Mia, pragmatische Naturwissenschaftlerin, die alles andere im Sinn hat, als diesem Staat im Weg zu stehen. Doch das Vertrauen in ihren Bruder ist größer als ihre Systemtreue und so beginnt sie, mehr und mehr aufzubegehren. Dabei durchstreift sie einen Gerichtssaal nach dem anderen, knüpft schwerwiegende Beziehungen und wird unfreiwillig zur Symbolfigur des Widerstands.
Auf den Spuren ihres Bruders erfährt Mia, was Liebe ist und warum es sich zu leben lohnt – eine Lektion, die er ihr erst durch seinen Tod vemitteln konnte:
Dem wahren Menschen genügt das Dasein nicht, wenn es ein bloßes Hier-Sein meint. Der Mensch muss sein Dasein erfahren. Im Schmerz. Im Rausch. Im Scheitern. Im Höhenflug. Im Gefühl der vollständigen Machtfülle über die eigene Existenz. Über das eigene Leben und den eigenen Tod. Das, meine arme, vertrocknete Mia Holl, ist Liebe.
Der Roman »Corpus Delicti« von Juli Zeh ist mehr als eine Warnung vor totalitären Systemen. Er appelliert an die Menschheit, nicht den Drang nach Freiheit und unabhängigen Entscheidungen zu verlieren und das kritische Denken nicht den anderen zu überlassen. Jeder Mensch hat ein Recht auf Selbstbestimmung und dieses kann von niemandem übernommen werden.
»Corpus Delicti« lässt sich leicht und schnell lesen und vermittelt gleichzeitig eine tiefgreifende Botschaft. Das Buch lebt von philosophischen Dialogen, die an einigen Stellen zwar gestellt wirken, aber ihre Aussagekraft dennoch nicht verlieren. Ein empfehlenswertes Buch, das vor einem Gesundheitsfanatismus warnt und zur Selbstreflexion anregt.
Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess | Deutsch
btb 2010 | 272 Seiten | Jetzt bestellen