Er würde Linda und mich betrunken mit nächtlichen Telefonanrufen belästigen, um uns mit Beleidigungen und Schimpftiraden zu malträtieren. Wegen jeder vermeintlichen Ungerechtigkeit – und sei sie auch noch so klein – eine Fatwa aussprechen. Wenn der labile, immerzu Ärger verursachende und mit schweren Problemen kämpfende Bruder, der voller Stolz mit der Gabel in der Hand durch eine Welt voller Suppe stapft, sich das Leben nimmt, dann bleibt eine Erkenntnis so unaussprechlich, dass die verbliebenen Geschwister sie höchstens zu flüstern wagen: ›Ich bin froh, dass er tot ist.‹
Der Bruder von Autor John Niven beging 2010 einen Selbstmordversuch und starb unter dramatischen Umständen. Nach einem Leben, das hauptsächlich aus Rebellion und diversen Süchten bestand. Niven legt hier seine Memoiren anhand der unterschiedlichen Geschichte zweier Brüder vor. Wie konnte es dazu kommen, dass Gary Niven sich das Leben nahm?
Während John einen guten Schulabschluss erlangt, einen gutbezahlten Job bei einer Plattenfirma in London bekommt und schließlich zum erfolgreichen Romanautor wird, scheint in Garys Leben alles schief zu laufen. In seiner Jugend ist er durch sein cooles und aufsässiges Verhalten ein Held für die Gleichaltrigen. Durch seine gewinnende Art kann er in den folgenden Jahren mit Drogenverkäufen seinen Lebensunterhalt sichern. Doch die lebenslangen Streitigkeiten mit dem Vater, die Unfähigkeit zu Bindungen und längerfristigen Beziehungen machen ihn schnell zum Sorgenkind der Familie.
Garys Abstieg wirkt sich auf alle Menschen in seiner Umgebung aus, die er immer wieder vor den Kopf stößt und ausnutzt. Der Vater verzweifelt lautstark, die Mutter leidet still. Sein Bruder John versucht von London aus zu helfen, doch das ist alles andere als einfach.
Direkt vor der Lektüre von »O Brother« habe ich nach zehn Jahren eher zufällig noch einmal Nivens Roman »Straight White Male« gelesen. In meiner Erinnerung die Geschichte einer coolen Socke, die sich saufend und lärmend durchs Leben schlägt. Das ist sie zwar immer noch und auch noch genauso witzig, aber beim zweiten Lesen fiel mir viel stärker der Familienbezug ins Auge, die Lebenszweifel und das Betrauern verpasster Gelegenheiten im Leben. Der Roman war Nivens erste Veröffentlichung nach den Ereignissen, die in »O Brother« beschrieben werden und weckten in mir das dringende Bedürfnis, »Straight White Male« noch ein drittes Mal zu lesen.
John Nivens persönlicher Werdegang nimmt nur einen geringen Teil des Buches ein. Natürlich gibt es herrliche Anekdoten aus dem Musikbusiness, aber über sein Leben als Autor und das Entstehen seiner Bücher erfährt man verhältnismäßig wenig. Hauptaugenmerk liegt auf dem Aufwachsen der Brüder und der Erforschung der Ursachen, weshalb sie so unterschiedliche Laufbahnen einschlugen.
Da es sich um eine wahre Geschichte handelt und keinen Roman gibt es nicht das eine einschneidende und lebensveränderte Ereignis, das ins Verderben führt. Es ist ein langsamer und quälender Prozess über viele Jahre hinweg. Eine Abwärtsspirale, aus der es kein Entkommen gibt.
John Niven beschreibt eindringlich die eigene Machtlosigkeit, seinem Bruder helfen zu können. Er schildert die Schuldgefühle, ihn nicht gerettet zu haben, aber auch das Desinteresse und schließlich die Resignation, weil Gary so viele Hilfsangebote ausschlug oder untergrub. Niven versucht nicht, durch dieses Buch sein eigenes Handeln zu rechtfertigen. Höchstens vielleicht, es zu erklären. Es gibt keine simplen Schuldzuweisungen, stattdessen das starke Bedürfnis zu verstehen, wie es soweit kommen sollte. Eine Tragikomödie, die oft zum Lachen reizt und noch öfter zu Herzen geht.
John Niven: O Brother | Deutsch von Stephan Glietsch
btb 2024 | 400 Seiten | Jetzt bestellen
Wichtiger Hinweis: Falls Du Dich mit dem Gedanken trägst, Dir das Leben zu nehmen, sprich mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar – unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findest Du hier.