In seinem ersten Roman über Kalmann Óðinsson ließ uns der Autor Joachim B. Schmidt die Welt aus der Sicht eines jungen Mannes betrachten, die einerseits einem arglosen Kind gleicht, andererseits jedoch verblüffend klug und besonnen wirkt. In seiner aktuellen Fortsetzung »Kalmann und der schlafende Berg«, die ebenfalls beim Schweizer Diogenes Verlag erschien, gelingt es Joachim B. Schmidt erneut, eine ebenso berührende wie feinfühlige Geschichte zu erzählen. Wie blickt ein Mensch auf unsere komplexe Gesellschaft, der eben nicht gleich alle Zusammenhänge einzuordnen vermag? Hilft es ihm, über all unsere Verrücktheiten zu staunen?
Früher habe ich geglaubt, dass der einsamste Ort der Welt im Schulzimmer ist, in der hintersten Reihe, da, wo man ganz allein am Tisch sitzt und nicht begreift, was der Lehrer vorne der Klasse erklärt. Alle hören aufmerksam zu oder schreiben etwas auf, werfen dir manchmal Blicke nach hinten, froh darüber, dass es jemanden gibt, der blöder ist als man selbst. Niemand möchte der Dümmste sein., und wenn man so ist wie ich, ist es das Klügste, es nicht abzustreiten.
Aufgrund der bereits bekannten Erzählperspektive ist man schnell auf Augenhöhe mit dem Sheriff von Raufahrhöfn – im Nordosten Islands, wenige Kilometer entfernt vom Polarkreis. Während ein Virus die Welt stilllegt, stirbt Kalmanns Großvater und er zieht zu seiner Mutter in die nächstgrößere Kleinstadt. Dort sortiert er nun die Einkaufswagen auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt. Woher nur weiß Kalmanns bester Freund Nói, dass sein Großvater umgebracht wurde?
Im weiteren Verlauf seines Alltags bekommt Kalmann von seinem Vater eine Einladung, Weihnachten bei ihm in Amerika zu verbringen und seine Mutter ermuntert ihn zu dieser Reise. Was er dort erlebt, ist einerseits hanebüchen, andererseits sehr spannend. Kalmann gerät mitten in den Sturm auf das Kapitol in Washington, weil er von seinem Vater und dessen Familie dorthin mitgenommen wird. Welche andere Wahl hätte er gehabt?
Die Ereignisse in der aufgeheizten Menge sind für ihn kaum fassbar, noch weniger seine Festnahme durch das FBI. Die zentrale Sicherheitsbehörde stellt rasch fest, dass von Kalmann keine Gefahr ausgeht und schickt ihn mit dem nächsten Flugzeug zurück nach Island. Wohlbehalten zu Hause angekommen, muss sich Kalmann mit einer nächsten Ungeheuerlichkeit auseinandersetzen. Das FBI fand heraus, dass sein Großvater ein sowjetischer Spion war. Dies ruft dessen ehemalige Weggefährten und Kalmanns Großtante auf den Plan. Da seine Mutter nichts darüber wusste, begreift sie nun einige Erlebnisse aus ihrer Jugend. Wurde Kalmanns Großvater etwa doch umgebracht?
Was für eine überdrehte Familiengeschichte! Bilder, die wir alle noch im Kopf und kaum verdaut haben, verknüpft mit der Geschichte des Kalten Krieges. Erzählt von jemandem, der kein Blatt vor den Mund nimmt, geradeheraus, ehrlich.
Herrlich, wie Joachim B. Schmidt es versteht, die Geschehnisse zu überspitzen, mit vorgefassten Bildern zu spielen und zusammenzufügen, was (scheinbar) nicht zusammengehört! Während man nach Parallelen zu den historischen Ereignissen sucht, steckt sich Kalmann seinen Sheriffstern wieder an. Er ist nicht nur in einen mysteriösen Fall verwickelt, sondern muss sich auch mit der dunklen Vergangenheit Islands auseinandersetzen.
Auch wenn ihm dabei »die Fischsuppe in seinem Kopf überläuft« oder »sich die Räder rückwärts drehen«, fiebert man mit ihm mit, möchte ihn warnen, zurückhalten oder ihm gar helfen. Ein Lesevergnügen durch und durch, nach dem man sich wünscht, (nur für einen kleinen Moment) die verrückte Welt mit Kalmanns Augen zu betrachten.
Joachim B. Schmidt: Kalmann und der schlafende Berg | Deutsch
Diogenes 2023 | 304 Seiten | Jetzt bestellen