»Weil es schneite und einfach alles, mal abgesehen von der roten Blutlache, weiß war und man keinen einzigen Laut hörte, fühlte ich mich, als wäre ich der letzte Mensch auf der ganzen Welt. Und wenn man der letzte Mensch auf der ganzen Welt ist, ist man froh, wenn man es jemandem erzählen kann. Darum erzählte ich es dann doch, und damit fingen die Probleme an.«
Es gibt nur wenige Bücher, die ich nicht mehr aus der Hand legen, geschweige denn auslesen wollte. Wenn mein Herz für den Helden schlägt und der Ton des Buches mich auf subtile Art verzaubert, trenne ich mich ungern von der Welt, in die ich auf eine Buchlänge eingetaucht war. Vor kurzem ist ein Roman hinzugekommen: Joachim B. Schmidts »Kalmann«, erschienen im Diogenes Verlag. Der seit dreizehn Jahren auf Island lebende Autor mischte in diesem Buch die klassischen Zutaten für einen Island-Krimi auf ganz besondere Art. Dank seiner »wundersamen« Hauptperson ist »Kalmann« nicht nur ein außergewöhnlicher Kriminalroman, sondern eine ganz eigene berührende Geschichte.
Im Nordosten von Island, wenige Kilometer vom Polarkreis entfernt, liegt das Dorf Raufarhöfn. Früher lebte die Gemeinde vom Heringsfang und der Fischverarbeitung. Weil Island wegen der Überfischung der Meere Fangquoten einführte und es Raufarhöfn besonders traf, sind die Menschen abgewandert. Der viel beschworene Strukturwandel blieb aus. Nur jedes dritte Haus ist noch bewohnt. Die Schule wird bald schließen, denn das Dörfchen zählt nur noch 175 Einwohner.
Auf Initiative eines Hotelbesitzers wurde in Raufarhöfn das größte Freiluftkunstwerk Islands errichtet, um Touristen in die abgeschiedene Gegend zu locken. Der sogenannte Arctic Henge besteht aus einem Steinkreis mit mythologischen Motiven, abgeschaut beim englischen Stonehenge. Doch das aktuelle isländische Pendant blieb unvollendet, weil dem Dorf das Geld ausging. Diese real existierende Absurdität baute Joachim B. Schmidt in seine Geschichte ein. So gerät ein tief verschneiter, nebelverhangener Arctic Henge zum Schauplatz blutiger Ereignisse.
In Schmidts Geschichte wohnt auch Kalmann Óðinsson in Raufarhöfn. Er ist ein knapp 34-jähriger Individualist mit kindlicher Seele, der mit einem Cowboyhut, Sheriffstern und einer Pistole der Marke Mauser aus dem Koreakrieg ausgestattet auf sein Dorf aufpasst. Dass Kalmann am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt und der Hotelbesitzer und Unternehmer des Ortes vermisst wird, bringt Unruhe ins Dorf. Die Polizei erscheint, Drogen werden aus dem Wasser gehoben. Die Presse reißt sich um eine heiße Story. Ist gar ein hungriger Eisbär von Grönland bis in die Nähe von Raufarhöfn geschwommen? Wie kommt eine einzelne Menschenhand in den Magen eines erlegten Hais? Haben die dubiosen Litauer etwas mit dem Verschwinden des Hotelbesitzers zu tun? Ist Kalmanns Gammelhai verantwortlich für eine weitere Tote?
Der Ich-Erzähler Kalmann hat seine ganz persönliche (naive) Sicht auf die Geschehnisse. Auch wenn er von den Einheimischen verspottet wird, ist er kein »Depp«. Schließlich hat er einen fabelhaften Orientierungssinn, ist ein versierter Jäger, kann Spuren lesen, Haifische fangen und exzellent fermentieren. Nach seinem Großvater produziert er den zweitbesten Gammelhai auf Island.
Joachim B. Schmidt nutzt die Erzählperspektive seines Protagonisten geschickt und etabliert ihn als kommunikative Instanz. Er suggeriert, dass Kalmann seine Beobachtungen spontan und frei formuliert, als würde man ihm unmittelbar zuhören. So taucht der Leser zwar in das Weltbild Kalmanns ein, weiß jedoch nicht, was er ihm verschweigt. Über den Grad seiner Naivität kann man ebenso spekulieren wie über seine Intelligenz oder Gerissenheit.
Ohne Insiderwissen, Drehbuch oder Making of fischt der Leser im Trüben, bis Kalmann selbst die Geschichte vom verschwundenen Hotelbesitzer enthüllt. Aus der bekannten Sichtweise versteht sich. Die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit stellt sich nicht mehr, hat er sich doch mit seinem Blick auf das Geschehene und der Art des Erzählens längst einen Platz im Herzen des Rezipienten erobert.
Bis dahin genießt man herrliche sprachliche Bilder über das Leben in einem scheinbar »am Ende der Welt« liegenden Ort mit seiner unnachgiebigen Natur und den Menschen, die dort wohnen (bleiben). Joachim B. Schmidt gelingt es vorzüglich, die vorherrschende Stimmung einzufangen und so die ökonomischen und sozialen Veränderungen der ehemaligen Fischereiregionen Islands zu verdeutlichen. Mit Kalmann hat er eine literarische Figur mit Kultstatus erschaffen.
Joachim B. Schmidt: Kalmann | Deutsch
Diogenes 2020 | 352 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen