Jan Costin Wagner: Einer von den GutenWährend der Kriminalpolizist Ben Neven nach Dortmund fährt, um Böses zu tun, denkt er schon die Rückfahrt mit, setzt sie voraus, die Erschöpfung, die Müdigkeit, die Abwesenheit von Lust und das alles so sein wird, als wäre es nicht wirklich passiert.

Mit diesem Satz zieht Jan Costin Wagner seine Leserschaft in den letzten Teil um den Wiesbadener Ermittler Ben Neven. Der Roman »Einer von den Guten« erschien Ende August im Galiani Verlag. Man fühlt sich wie in einem Fahrzeug, das auf ein Hindernis zufährt und seine Geschwindigkeit zunächst langsam steigert. Während die Hürde Konturen annimmt, rast man immer schneller darauf zu. Der Aufprall ist unausweichlich.

Verfolgt Ben Neven seine pädophilen Neigungen anfangs nur im Netz (»Sommer bei Nacht«), hat er diese am Ende des zweiten Teils kaum noch unter Kontrolle (»Am roten Strand«). In der Nähe eines Dortmunder Spaßbades gerät er an den dreizehnjährigen Adrian, den er nun für seine sexuellen Dienste bezahlt und regelmäßig trifft. Ein glücklich verheirateter Vater einer Teenagerin, der die Ermittlungen gegen einen Pädophilenring leitet und selbst seine pädophilen Neigungen auslebt? Jan Costin Wagners Figur ist die widersprüchlichste und umstrittenste, die mir in meiner Blogger*innen-Zeit je begegnet ist.

Wie hypnotisiert fährt Ben Neven immer wieder hunderte Kilometer mit seinem dunkelblauen Dienstwagen zum Treffpunkt am Parkplatz neben dem Freibad, um Adrians »Dienstleistungen« in Anspruch zu nehmen. Der kommt aus Rumänien, kann nicht lesen, weil er nicht zur Schule geht. Sein Vater zwingt ihn zur Prostitution. Adrian hat bereits Verhaltensstrategien entwickelt, mit denen er von außen das Grauen beobachtet. Er fühlt sich wie »Zeug«, das man wegwirft. Ben Neven verachtet die Täter seiner polizeilichen Untersuchungen, kann jedoch sein eigenes Verlangen nicht unter Kontrolle bekommen. Dabei ist er sich bewusst, eine Straftat zu begehen. Er weiß um die möglichen beruflichen und privaten Folgen.

Wie fühlt es sich an, sich die Zuneigung des Jungen einzureden? Belastet einvernehmlicher Sex mit einem dreizehnjährigen Jungen das Gewissen weniger? Ben Neven driftet immer mehr in Zwangsvorstellungen und -handlungen ab, verstrickt sich in tiefe Widersprüche und quält sich bis hin zu einem Suizidversuch. Kann Adrian mit Hilfe eines Mädchens aus der Nachbarschaft der schlimmen Situation entkommen? Ben Neven sieht bald keinen Ausweg mehr. Er vertraut sich einem ehemaligen Kollegen an, der ihn an einen Therapeuten vermittelt.

Jan Costin Wagner räumt Ben Neven als auch Adrian eine Erzählperspektive ein. Seine knapp gehaltenen, schnörkellosen Sätze halten die Leser*innen wie ein Magnet bis zum letzten Satz bei der Lektüre. Vieles wird zart angedeutet und kommt doch so wuchtig daher, dass man verstört innehalten muss. Wagner bewertet nicht, sondern erzählt realistisch, sensibel und voller Poesie. Am Ende ist Ben Neven »(K)einer von den Guten« mehr. Die Geschichte über ihn erhält jedoch eine absolute Leseempfehlung!

Jan Costin Wagner: Einer von den Guten | Deutsch
Galiani 2023 | 202 Seiten | Jetzt bestellen