»Ich werde ihn finden. Das hat er nicht nur der Schwester versprochen, es ist auch ein Versprechen, das ihm selbst gilt. Er muss ihn finden. Jannis. Aber vor allem den anderen. Den Entführer, den Täter. Der nicht zu sehen ist, der kommt und geht, ohne aufzufallen, ohne Interesse zu wecken.«
Wenn das eigene Kind verschwindet, ist dies ohne Zweifel einer der grausamsten Eltern-Albträume. Sie fahren gemeinsam zum Schulflohmarkt, und die Mutter ist nur für einen Moment abgelenkt. Als sie wieder nach ihrem Kind schaut, ist es wie vom Erdboden verschluckt. In Jan Costin Wagners Roman »Sommer bei Nacht«, Anfang des Jahres beim Galiani Verlag Berlin erschienen, wird ein fünfjähriger Junge von einem unauffälligen Mann entführt, der zwei große Teddybären bei sich hat. Die Ermittler Ben Neven und Christian Sandner sollen den Fall aufklären. Unscharfe Aufnahmen von einer Überwachungskamera, keine Hinweise, vom Täter keine Spur. Die beiden Kommissare suchen nach einem übergewichtigen Phantom.
Unterdessen stoßen sie auf einen weiteren unaufgeklärten Fall, der sie nach Österreich führt. Auch hier hat die Mutter ihren Sohn nur wenige Minuten unbeobachtet gelassen, auch hier diente ein Teddy als Köder. Doch Wagners Geschichte ist komplex angelegt und geht weit über die Suche nach dem untypischen Kindesentführer hinaus. Sie verstört, weil sie die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischt und den Spot auf tiefe menschliche Abgründe richtet.
Denn nicht nur die Täter sind mit ungelösten traumatischen Erfahrungen belastet. Als Jugendlicher erlebte Christian Sandner, wie das von ihm angehimmelte Mädchen in seinen Armen starb. Während den Ermittlungen begeht die erwachsene Tochter des pensionierten Kollegen Landmann Selbstmord. Ben Neven, verheiratet und Vater einer Tochter, nimmt einen als Beweismittel sichergestellten USB-Stick mit nach Hause und empfindet beim Anschauen der Fotos eine verbotene Lust.
Ein pädophil veranlagter Polizist soll einem Kinderschänder mit Teddybären das Handwerk legen? Weil Neven bestrebt ist, den Fall aufzuklären und folglich zu den Guten gehören muss, drückt man ihm als Leser die Daumen. Neven fühlt sich fremd und kämpft gegen seine Neigungen. Christian Sandner fungiert als Gegenpart und findet im weiteren Verlauf immer mehr zu sich selbst. Jan Costin Wagner erklärt nichts, beschützt niemanden. Er beleuchtet das Geschehen äußerst einfühlsam und poetisch mit faszinierend tanzenden, beinahe trunkenen Bildern. Welche tiefen Wunden kann ein Verbrechen reißen! Wie sehr verändert Gewalt die menschliche Seele!
Die Sprache des Autors ist so präzise, dass sie genaues Hinsehen erzwingt. Seine Erzählweise aus den unterschiedlichen Perspektiven (Polizisten, Täter, Opfer) wirkt besonders plastisch. Einmal lässt Jan Costin Wagner seine Figuren gerade Ausgesprochenes in Gedanken wiederholen. Ein andermal scheinen die Worte einfach zu fehlen. Wer jedoch die true-crime-story sucht, wird enttäuscht. Hier wird nicht Spannung um seiner selbst Willen erzeugt. Der Leser kennt die Täter von Beginn an, die Polizisten ermitteln lange ins Leere und die Aufklärung geschieht eher zufällig.
Jan Costin Wagner rückt die Unschuld in den Mittelpunkt, verloren, bedroht, ermordet. Mit welcher Schuld müssen diejenigen leben, die solche Verbrechen begehen? Darauf wird es keine Antwort geben, auch nicht, nachdem Neven und Sandner die Täter entlarvt haben. Wagner erzählt von vielen Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen. Dass manche von ihnen als Pädophile enden und andere als Opfer, macht den Leser am Ende so betroffen.
Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht | Deutsch
Galiani Berlin 2020 | 320 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen
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