Abner Marsh schlug mit dem Knauf seines Hickoryspazierstocks scharf auf das Hotelpult, um den Angestellten auf sich aufmerksam zu machen.
»Ich bin hier mit einem Mann namens York verabredet«, sagte er. »Josh York, so nennt er sich, glaube ich. Gibt es hier einen solchen Gast?«
Der Angestellte war ein älterer Mann mit Brille. Er zuckte bei dem Klopfen zusammen, dann wandte er sich um, entdeckte Marsh und lächelte.
»Hallo, das ist ja Cap’n Marsh«, sagte er liebenswürdig. »Ich hab Sie ja seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, Cap’n. Habe aber trotzdem von Ihrem großen Pech gehört. Schlimm, ganz einfach schlimm. Ich bin schon seit ’36 hier, aber so viel Packeis habe ich bisher noch nie gesehen.«
1857. Dampfschiffer Abner Marsh steht ohne einen Penny da. Seine Flotte wurde im eisigen Winter zerstört und er ist zu einem Leben an Land verurteilt. Er trifft einen aristokratischen Jüngling von auffallend bleichem Äußeren namens Joshua York, der sich ihm als Partner anbietet, um den größten und schnellsten Schaufelraddampfer auf dem Mississippi zu bauen. Abner willigt ein und bald legt die »Fevre dream« ab zu ihrer Jungfernfahrt. Aber schnell kommt ihm das Verhalten seines Partners merkwürdig vor, der nur im Schutz der Dunkelheit in der Öffentlichkeit erscheint und während ihrer Reise entlang des Flusses ständig geheimnisvolle Besucher an Bord nimmt.
Joshua York zögerte einen Moment. Schließlich sagte er: »Sie sind ehrlich zu mir gewesen, Captain Marsh. Ich möchte Ihnen Ihre Offenheit nicht mit Lügen vergelten, wie ich es eigentlich beabsichtigt hatte. Aber ich werde Sie auch nicht mit der Wahrheit belasten. Es gibt da Dinge, über die ich nicht reden darf, Dinge, die Sie wahrscheinlich auch gar nicht wissen wollen. Lassen Sie mich Ihnen meine Bedingungen nennen, unter diesen Umständen, und dann wollen wir sehen, ob wir auf dieser Basis zu einer Einigung kommen können. Wenn nicht, dann trennen wir uns in friedlichem Einvernehmen.«
Der Leser ahnt schon recht früh, dass es sich bei den Besuchern um Vampire handelt. York sammelt sein Volk ein, um es in Sicherheit zu bringen. Eine Exodus-Geschichte vor einem faszinierenden historischen Hintergrund. Martin greift die Themen jener Zeit auf. Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts im amerikanischen Süden, die Sklaverei, den Fortschrittsglauben und den aufziehenden Sezessionskrieg.
Die Charaktere sind prägnant gezeichnet und trotzdem vielschichtig, keine Schwarzweißteilung in gute Menschen und böse Vampire. Die Hauptfigur ist kein strahlender, jugendlicher Held, sondern ein knorriger, alter Mann, der abgesehen von seinen Fahrgästen noch mit einigen alltäglichen Sorgen zu kämpfen hat, wie dem Konkurrenzkampf auf dem Fluss.
Der Autor George R.R. Martin hat mit »Das Lied von Feuer und Eis« eine der besten, umfangreichsten und erfolgreichsten Fantasy-Reihen verfasst, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Bei »Fiebertraum« handelt es sich um eines seiner Frühwerke, als er noch unterschiedliche Genre ausprobierte, und er hat aus dem Stand einen Klassiker geschaffen. Einen atmosphärisch sehr dichten Roman, der auch ohne die Vampire unglaublich spannend wäre.
Die erste Hälfte könnte von Mark Twain stammen, die zweite von Bram Stoker oder Stephen King. Wer einmal eine Vampirgeschichte abseits der ausgetretenen Dracula- und Twilight-Pfade lesen möchte und Kim Newmans »Die Vampire« schon gelesen hat, sollte hier zugreifen. Genreliteratur wie sie besser nicht sein könnte.
George R.R. Martin: Fiebertraum | Deutsch von Michael Kubiak
Heyne 2008 | 512 Seiten | Jetzt bestellen