Die Eingangshalle des PanOpticons – riesig wie der Bauch eines Steinwals – verschluckt mich mit Haut und Haaren. Pfeile auf dem Fußboden tasten meine Füße ab und lotsen mich zu einem freien Platz an der Anmeldung. Eine Tür schließt sich zischend hinter mir, versiegelt die unterirdische Finsternis. Ein Tracerstrahl scannt mich und registriert piepend den Barcode auf meinem ID-Schild. Gelbes Licht geht an, und ich starre auf mein Spiegelbild. Die Verkleidung ist auf jeden Fall gelungen. Overall, Baseballmütze, Werkzeugkiste, Klemmbrett. Eine Frostschöne erscheint vor mir auf dem Bildschirm. Ihr Gesicht ist Symmetrie in Vollendung. SECURITY leuchtet auf dem Abzeichen an ihrem Revers. »Nennen Sie Ihren Namen«, sagt sie ausdruckslos, »und Ihren Beruf.« Ich überlege, wie viel Mensch wohl in ihr steckt. Heutzutage vermenschlichen sich die Computer, und die Menschen computerisieren sich. Ich spiele den tief beeindruckten Tölpel. »Tagchen. Ich heiße Ran Sogabe. Ich komme von den Goldfischfreunden.«
Der neunzehnjährige Eiji kommt nach Tokio, um nach seinem Vater zu suchen und hofft, dessen Aufenthaltsort von seiner Anwältin zu erfahren. Sie arbeitet in einem gefängnisartigen Wolkenkratzer mit Sicherheitsdienst und Alarmsystemen. Es gelingt Eiji, zu ihr vorzudringen, doch die Adresse seines Vaters erfährt er nicht. Stattdessen muss er recht spektakulär aus dem Gebäude fliehen. Dieser Auftakt des Romans erinnert an eine Mischung aus »Matrix, Inception« und William Gibson und entpuppt sich nach ein paar Dutzend Seiten als reine Tagträumerei.
Danach verwandelt sich das Buch in eine flotte Murakami-Variante. Wir erfahren von seiner Halbschwester, dem abwesenden Vater und der alkoholkranken Mutter, die ihn als Dreijährigen beinahe umgebracht hätte und ihn deshalb den Großeltern und Onkeln übergab. In einem Spielsalon lernt er den reichen Sprößling Daimon kennen, der ihn in die Welt der Love Hotels und Yakuza einführt. Nach einer durchzechten Nacht lässt er Eiji mit der Rechnung sitzen, aber auch mit einer neuen Spur zu seinem Vater.
Die Handlung des Romans ist denkbar simpel: Ein junger Japaner sucht in der Millionenstadt Tokio nach seinem Vater. Aber wie es erzählt wird, ist einzigartig. Die Suche führt durch ebenso viele Milieus der Stadt wie durch Genre der Literatur und dies macht das Buch auf erfrischende Art chaotisch. Es gibt Zeitsprünge, Rückblenden und jede Menge postmoderner Spielereien, bei denen Mitchell seine ganze Virtuosität entfalten kann.
Man muss nicht die zahlreichen literarischen Anspielungen (vor allen auf Murakami) verstehen, um an dem Buch seine Freude zu haben. Die Handlung ist so verschachtelt, dass man jedes Kapitel mit großem Vergnügen mehrmals liest. Jede neue Spur führt Eiji in eine Sackgasse, und auch wenn Mitchell diesen Kniff ein- oder zweimal zu oft bemüht, tut er dies doch jedes Mal auf ungeheuer originelle Art. Der Roman ist übervoll mit Geschichten, vielstimmig und abwechslungsreich, mit köstlichen Dialogen und wahnwitzigen Ideen. Die Lektüre ist anstrengend, aber auf lohnende Art.
»Number 9 dream« gehört zweifellos zu den interessantesten Veröffentlichungen dieses Jahres. Nach »Chaos« und »Der Wolkenatlas« (der von Tom Tykwer mit Tom Hanks verfilmt wurde) das nächste Meisterwerk von David Mitchell.
David Mitchell: Number 9 Dream | Deutsch von Volker Oldenburg
Rowohlt 2011 | 544 Seiten | Jetzt bestellen