David Mitchell: Chaos»Ihr hört die Bat Segundo Show auf Night Train FM, 97.8 die ganze Nacht. Blues, Rock, Jazz und Talk von Mitternacht bis die Dämmerung die tiefgekühlte Ostküste auftaut. Es ist Viertel vor drei am allerletzten Novembermorgen. Jetzt melden sich kurz unsere Sponsoren, und danach bringt uns New Yorks Größter, Mr. Lou Reed, auf seinen ›Satellite of Love‹. Mein Telefonteam ist wie immer bereit, eure Anrufe direkt aufs Batphone zu legen. Bis jetzt führte uns die Talksafari zu den gestrigen Luftangriffen gegen den nordafrikanischen Terrorismus, zu Albinoaalen in unserer Kanalisation und der Frage, ob Eunuchen bessere Präsidenten sind.«

Da hätten wir ein Sektenmitglied, das am Giftgasanschlag auf eine U-Bahn beteiligt war. Eine alte Frau, die an einem heiligen Berg in China eine Teehütte betreibt. Ein Kunsthändler in St. Petersburg, ein Börsenmakler in Hongkong, eine Nuklearwissenschaftlerin in Irland, ein Radiomoderator in New York und Rucksacktouristen in der Mongolei. So unterschiedlich wie die Personen sind auch die Milieus, in denen sie auftreten. Man kommt viel herum in diesen weltumspannenden Short Cuts.

Die Herausgeber von »Chaos« haben sich wohl gedacht: Kurzgeschichtensammlungen unbekannter Autoren verkaufen sich nicht, nennen wir es doch »Ein Roman in neun Teilen«. Die Geschichten sind nur sehr lose miteinander verknüpft. Es gibt vereinzelt Anspielungen auf die Ereignisse der anderen Geschichten und deren Auswirkungen, aber um alle Zusammenhänge zu überblicken, wäre es hilfreich, einen Flip-Chart zur Hand zu haben.

»Chaos« ist eine sehr empfehlenswerte Lektüre. Dramatisch, humorvoll, spannend, manchmal etwas zu gewollt skurril, aber immer unterhaltsam. Die Geschichten sind abwechslungsreich, in Handlung und Erzählstil so verschieden, man möchte kaum glauben, dass sie vom selben Autoren stammen. Auf eine zarte Liebesgeschichte folgt ein Spionagekrimi, einer Erzählung mit SF-Elementen folgt eine Geschichte über ein körperloses Geistwesen, das die Menschen als Wirte nutzt und von einem zum anderen wandert. Das klingt nach dem titelgebenden Chaos, doch die Geschichten schaffen jeweils ihre eigene Welt, in der die Ereignisse völlig plausibel erscheinen.

Die Kommunisten kamen zum Sommeranfang. Sie waren nur zu viert – zwei Männer und zwei Frauen. Sie waren jung und trugen adrette Uniformen und Pistolen. Mein Baum hatte mich auf ihr Kommen vorbereitet. Ich warnte meinen Vater, der wie immer in seiner Hängematte schlief. Er blinzelte mit einem Auge und sagte: »Scheiß drauf, die sind alle gleich. Nur die Abzeichen und Orden ändern sich.« Mein Vater sollte sterben, wie er gelebt hatte. Mit minimalem Aufwand.

David Mitchell hat inzwischen mit »Der Wolkenatlas« und »Der dreizehnte Monat« zwei weitere Bücher auf Deutsch veröffentlicht.

David Mitchell: Chaos | Deutsch von Volker Oldenburg
Rowohlt 2006 | 590 Seiten | Jetzt bestellen