David Mitchell: Die KnochenuhrenHolly Sykes und der schräge Scheiß, 1. Teil. 1976 war ich sieben Jahre alt. Es gab den ganzen Sommer über keinen Regen, und die Gärten wurden braun. Ich weiß noch, dass Brendan, Mam und ich mit unseren Eimern an der Zapfstelle in der Queen Street Schlange standen, weil das Wasser so knapp war. In diesem Sommer fing es an. Ich hörte Stimmen. Sie waren nicht wütend, auch nicht gemein oder besonders furchterregend, jedenfalls nicht sofort … Ich nannte sie die Radiomenschen, weil ich anfangs glaubte, im Zimmer nebenan liefe das Radio. Nachts waren die Stimmen am klarsten, aber ich hörte sie auch in der Schule, wenn es um mich herum still war, bei Klassenarbeiten und so. Es brabbelten immer drei, vier Stimmen gleichzeitig, und ich verstand nie, was sie sagten. Brendan hatte von psychiatrischen Anstalten und Männern in weißen Jacken geredet, darum traute ich mich nicht, jemandem davon zu erzählen.

In seiner Form erinnert »Die Knochenuhren« an seine früheren Bücher »Chaos« und »Der Wolkenatlas«. Auch hier wird die Geschichte in der Form mehrerer, inhaltlich miteinander verbundenen Novellen erzählt. Die Geschichte beginnt Mitte der Achtziger mit der jungen Holly Sykes und endet weit in der Zukunft, mit dem Endkampf zwischen Gut und Böse.

Die Handlung ist viel stringenter als in den beiden oben genannten Beispielen. Mehrere Genres sind hier bunt miteinander gemischt, aber das war bei Mitchell schon immer der Fall. Dieses Mal liegt der Schwerpunkt auf der Phantastik. Die übersinnlichen Elemente halten anfangs nur sehr zögerlich Einzug in die Handlung, aber im letzten Viertel entwickelt sich ein Showdown wie in einer sehr düsteren Harry-Potter-Geschichte, so wie sie vielleicht Neil Gaiman entworfen hätte. Es ist eine Phantastik-Pulp-Geschichte, erzählt mit den Mitteln der Hochliteratur und schon allein deswegen ungeheuer faszinierend. Vor allem fesselt aber Mitchells erzählerische Brillanz, mit der er seine Leser in das Buch hineinzieht.

Die Hauptfiguren der einzelnen Kapitel wechseln, und sie erzählen alle in der Ich-Form, aber jeder von ihnen auf seine eigene, spezielle Art, sodass man schon nach wenigen Sätzen weiß, wem man gerade lauscht. Besonders der Handlungsstrang um den Schriftsteller Crispin Hershey hat es mir sehr angetan. Aber in diesem Buch kann jeder etwas finden, denn es ist so vielfältig in seinen Motiven und Themen. Selbst Leser, die bisher einen großen Bogen um die Phantastik gemacht haben, können hier auf faszinierende Weise in dieses Genre hineinschnuppern.

»Die Knochenuhren« ist für mich eines der Highlights dieses Jahres. Man kann das Buch und seinen Autor einfach nicht genug loben.

David Mitchell: Die Knochenuhren | Deutsch von Volker Oldenburg
Rowohlt 2016 | 816 Seiten | Jetzt bestellen