Charlie Kaufman: Ameisig»Das war die erste Rolle«, erklärt Ingo und setzt hinzu: »Es ist eine Komödie.«
»Das ist ganz ungewöhnlich«, sage ich. »Wie viel gibt es davon noch? Ich würde gerne alles sehen, wenn ich darf.«
»Er dauert drei Monate.«
»Drei Monate wie in Monate?«
Er nickt und sieht mich mit seinen müden, wässrigen, blutunterlaufenen, glasigen afroamerikanischen Augen an.
»Der Film dauert drei Monate?«, sagte ich noch einmal. »Nur damit ich Sie richtig verstehe.«
»In etwa. Ich arbeite seit neunzig Jahren daran. In etwa.«

Charlie Kaufman wurde in den Neunzigern mit dem Drehbuch zu »Being John Malkovich« berühmt. Es folgten die Vorlagen zu einer ganzen Reihe bekannter Filme, denen eines gemeinsam ist, sie sind alle schräg und ungewöhnlich. Sein Drehbuch zu »Adaption« erhielt eine Nominierung für den Drehbuch-Oscar und für »Vergiss mein nicht« mit Jim Carrey wurde Kaufman 2003 mit dem Oscar ausgezeichnet.
Nun erschien sein Romandebüt und es ist – wie zu erwarten – schräg und ungewöhnlich.

Der Endfünfziger B. Rosenberger Rosenberg versucht vergeblich, seine Identität als alter weißer Mann loszuwerden. Er betont unablässig, dass seine Freundin schwarz ist und er kein Jude sei. Er verzichtet auf die vollständige Nennung seines Vornamens, damit seine Artikel genderneutral beurteilt werden können. Darüber hinaus lebt er in der ständigen Angst davor, falsch zu gendern oder jemanden versehentlich rassistisch zu beleidigen.

Als Filmkritiker plant er ständig neue Essays über ausländische Kunstfilme ohne Untertitel, die er zur genauen Analyse nicht nur mehrmals sieht, sondern auch mindestens einmal rückwärts. Er kritisiert in seinen Artikeln viele populäre Filme, unter anderem die Werke eines gewissen Charlie Kaufmans. Durch Zufall entdeckt B. Rosenberg den längsten Film aller Zeiten. Er dauert drei Monate, stammt von dem schwarzen Regisseur Ingo Cutbirth und ist über einen Zeitraum von neunzig Jahren entstanden. Die Darsteller sind allesamt Puppen, die Ingo in mühevoller Kleinarbeit angefertigt hat.

Nach dem plötzlichen Tod des Regisseurs ist Rosenberg entschlossen, dieses unbekannte Meisterwerk berühmt zu machen, doch bei dem Versuch wird die einzige Kopie zerstört, mitsamt allen Puppen. Rosenberg ist außer dem verstorbenen Regisseur der einzige, der den Film jemals ganz gesehen hat. Bei dem Versuch, die Zerstörung des Films zu verhindern, wird er allerdings schwer verletzt und fällt in ein mehrmonatiges Koma. Danach hat er die Erinnerung an den Inhalt des Films verloren. Es gibt nur noch die Erinnerung in seinem Unterbewusstsein, aber wie soll er an sie drankommen? Er versucht, mit Hilfe von Hypnose den Film in Gedanken zu rekonstruieren.

Die Idee ähnelt Kaufmans eigenem Film »Synecdoche, New York«, in dem Philip Seymour Hoffman einen Regisseur spielt, der ganz New York in einer Lagerhalle nachbauen will. Eine nicht enden wollende Sisyphusarbeit, aber eine Kleinigkeit, verglichen mit der Aufgabe, die vor Rosenberg liegt.

In seinen Filmdrehbüchern löste Kaufman oft die die Grenzen zwischen Realität und Fantasie auf, deshalb überrascht es wohl niemanden, dass er in seinem ersten Roman – losgelöst von Budgetplanungen und Sehgewohnheiten der Kinogänger – völlig die Zügel schießen lässt.

Kaufmans Prosa ist genauso abgedreht wie seine Filmhandlungen, aber hier kommen noch die witzigen Innenansichten seines Protagonisten dazu. Es ist ein großes Vergnügen, diese Gedankengänge zu verfolgen, denn die Hauptfigur stellt selbst die neurotischsten Charaktere von Woody Allen in den Schatten. Herrlich paranoid stolpert der Ich-Erzähler durch seine Welt und stellt alles infrage. Kaufman thematisiert dabei Political Correctness, Cancel Culture und Identitätspolitik und stellt die Leiden alter weißer Männer dar, die genau das nicht sein möchten.

»Ameisig« wimmelt von grotesken Figuren und surreale Ereignissen. Einige Ideen sind so brillant, dass man ihnen ein eigenes Buch wünschen würde. Rosenberg bespricht sogar einen nicht existierenden Kaufman-Film namens »Träume von nicht existierenden Übertretungen« und die Kritikpunkte an dem Film klingen so, als wolle der Autor sie für den Roman vorwegnehmen, denn dort wären sie genauso angebracht.

Ich möchte niemandem etwas vormachen. Der Roman ist eine anstrengende Lektüre und man sollte die 864 Seiten nicht am Stück lesen (sofern das überhaupt möglich ist). Aber dieses Buch ist so prallvoll mit komischen Dialogen und absurden Ereignissen, dass man auf jeder Seite etwas Schönes finden kann.

»Ameisig« wird oft mit »Unendlicher Spaß« verglichen. Wer das Buch von David Foster Wallace komplett gelesen hat, weiß einzuschätzen, was ihn hier erwartet. Kein Buch für jedermann, aber wenn man an surrealen Halluzinationen Spaß hat, kommt man hier voll auf seine Kosten. Der Roman ist zwar zu lang und hat von allem zu viel, aber er ist beeindruckend, sympathisch und wirklich witzig.

Charlie Kaufman: Ameisig | Deutsch von Stephan Kleiner
Hanser Verlag 2021 | 864 Seiten | Jetzt bestellen