Charles Lewinsky: Der StottererSie wissen, wie gern ich Schopenhauer zitiere. »Die Wahrheit«, hat er einmal gesagt, »ist eine spröde Schöne.« Wer schreibt, versucht die Schönheit an den Mann zu bringen, als ihr Heiratsvermittler oder, wenn ich mit dem Wort nicht Ihre Gefühle verletze, als ihr Zuhälter. Wenn es nötig ist, sie dafür aufzuhübschen, dann gehört das zum Geschäft. (Johannes Hosea Stärckle an den Padre)

Charles Lewinsky ist einer der bekanntesten Autoren in der Schweiz. Wie in seinem letzten Roman »Andersen« geht es auch im aktuellen Buch »Der Stotterer« um einen Außenseiter, der mit der Macht des Bösen spielt und vorzüglich zu manipulieren weiß.

Johannes Hosea Stärckle stottert sehr stark, hat jedoch ein außergewöhnliches Sprachtalent, das ihn virtuose Geschichten erfinden lässt. Klug und witzig spielt er mit dem geschriebenen Wort und zitiert bei jeder passenden Gelegenheit seinen Lieblingsphilosophen Arthur Schopenhauer. Seine Familie bezeichnet er als »kleinkariert«, die Eltern gehörten einer christlichen Sekte an. Der Vater verprügelte seinen Sohn mit Hingabe und Sorgfalt und versuchte auf Anraten des Sektenführers, ihm das Stottern auf dieselbe Art und Weise auszutreiben.

Diese Erziehungsmethode scheiterte nicht nur – nein, sie entwickelte auch des Protagonisten ganz eigene Waffe: Cleverness verbunden mit dem Instinkt dafür, was die anderen von ihm erwarten. So kann er zunächst den Strafen entkommen und sich später selbst rächen. Seine Vergeltung an dem scheinheiligen Kirchenoberhaupt Bachofen lässt den Leser einen Schauer über den Rücken laufen.

Nun sitzt Johannes Hosea Stärckle wegen Trickbetrugs im Gefängnis und arrangiert sich mit dem Gefängnispfarrer. Er darf die Bibliothek der Vollzugsanstalt verwalten und schreibt im Gegenzug dem Padre (so nennt er den Seelsorger) Geschichten aus seinem Leben auf. Dafür schöpft er in vollen Zügen aus seiner traumatischen Vergangenheit. Doch wer weiß mit Sicherheit, ob diese wahr, erfunden oder ob es sich um Erinnerungen handelt?

Nicht nur der Padre saugt die Erzählungen gierig auf. Auch der Leser sieht sich der meisterhaften Erzählkunst ausgeliefert. Soll man dem sympathischen Spitzbuben Johannes Hosea glauben oder den fließenden Worten des ausgekochten Kriminellen eher misstrauen?

Einerseits will man ihm den liebenswürdigen Hochstapler abnehmen, wenn er mit dem bekannten »Enkeltrick« den älteren Damen mit seinen unwiderstehlichen Briefen das Geld aus der Tasche zieht. Unser »Held« glaubt, dass dies Niveau hatte, weil er den gutgläubigen Frauen als Gegenleistung eine schöne Illusion von Drama und Liebe geboten hat. Andererseits führt Charles Lewinsky dem Leser auch die Boshaftigkeit von Johannes Hosea Stärckle vor Augen. Man möchte sich abwenden, je skrupelloser und komplexer die Taten werden und fühlt sich in einer moralischen Sackgasse.

Doch wie genießerisch kann man sich Stärckles Erzählungen hingeben! Allein deswegen hätte man ihm den schriftstellerischen Erfolg aus eigener Kraft gegönnt. Doch lässt sich das Erfundene kaum herausfiltern, geschweige denn nachprüfen. Letztendlich kann man sich mit dem »Helden« nicht identifizieren. Charles Lewinsky (be-)nutzt in seinem aktuellen Buch die immense Kraft der Beeinflussung durch die Sprache, indem er seinen Protagonisten mit kreativer und präziser Wortwahl Welten bauen lässt, deren Kulissen am Ende zusammenstürzen wie Potemkinsche Dörfer.

»Geschichtenerfinder müssen keine Bekenner sein, sondern gute Lügner«, fabuliert Stärckle und beschreibt die Persönlichkeit eines Hochstaplers, dessen Namen man lange im Gedächtnis behalten wird.

Charles Lewinsky: Der Stotterer | Deutsch
Diogenes 2019 | 416 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen