Charles Lewinsky: AndersenIn Charles Lewinskys Roman »Andersen«, erschienen 2016 bei Nagel & Kimche, erhält ein Mensch die Chance einer Wiedergeburt.

Was er daraus macht, ist nicht nur äußerst spannend, sondern lässt genügend Platz, die eigene Persönlichkeit zu reflektieren. Lewinsky überspitzt die Fragen »Wer bin ich?«, »Wer glaube ich zu sein?« und »Für wen halten mich die anderen?« bis ins Unerträgliche. Frei nach Goethes Faust spürt der Autor den beiden Seelen nach, die, ach, in der Brust des Protagonisten wohnen. Es entsteht ein Vabanquespiel der Charaktere, verwoben in einem Lügengeflecht, das zwangsläufig tödlich enden muss. Sehr behutsam zieht es den Leser in die Handlung, tappt er doch gemeinsam mit dem unbeschriebenen Blatt des Ich-Erzählers erst einmal orientierungslos im Dunkeln.

Bis man mitbekommt, dass ein Embryo in der Gebärmutter von Helene auf seine Geburt wartet, muss man sich auf einen langen Monolog einlassen, der einige Rätsel aufgibt. Helenes Kind wird am 16. Juli 2003 geboren und heißt Jonas. Der merkwürdige und nahezu unausstehliche Junge hat bereits ein Leben hinter sich und denkt zudem wie ein Erwachsener. Seine nebulöse Vergangenheit scheint ihn zu bedrohen, er will sie loswerden. Schon einmal hat ihn seine frühere Identität zur Vertuschung aller Spuren veranlasst. Mit einer neuen Biografie gründete er damals eine Handelskette mit dem Namen »Andersen«.

Jonas lässt verlauten, dass ihm sein neuer Name nicht gefällt. Aus Angst entlarvt zu werden, »bastelt« er seit längerem an einer anderen Biografie, in der er den Namen »Andersen« wieder aufgreift. Millimeter genau plant er auch das kleinste Detail. Die Wiedergeburt im 21. Jahrhundert ist seine zweite Chance. Ursprünglich Jahrgang 1898 hat er freiwillig im Ersten Weltkrieg gekämpft und scheint später Menschen gequält und gefoltert zu haben. Nun trägt er das Entsetzen in die nächste Generation.

Raffiniert erzählt Charles Lewinsky die Kindheit und die frühe Jugend von Jonas – aus der Sicht des Jungen und aus der Sicht seines Vaters Arno, der ein Tagebuch führt. Der Leser erlebt den Jungen einerseits widerwillig, neumalklug und unnachgiebig. Andererseits fühlt man sich durch den Erzählfluss und die Tragikomik um den Erwachsenen im Körper eines Kindes gut unterhalten. Jonas sieht sich als Musterhäftling und spielt eine Rolle, in der er sich eingeengt fühlt. Dies ist für ihn unerträglich. Seine Umwelt wünscht sich einen niedlichen Jungen. Dieser Widerspruch lässt ihn bereits kurz nach seiner Geburt Geld für seine Flucht sparen. Den Umgang mit dem Computer bringt er sich selbst bei. Seine Neigungen zu Gewaltdarstellungen und Gewalt durchdringen das ganze Buch. Im Alter von zwölf Jahren verschwindet Jonas aus seinem Elternhaus.

In Lewinskys Roman steht eine Figur mit durchweg unmenschlichen Verhaltenszügen im Mittelpunkt. Sie treibt nicht nur die Geschichte voran, sondern bleibt bis zur letzten Seite geheimnisvoll, ja unfassbar. Jonas kennt keine Skrupel und ist hoch intelligent. Er liebt das Violin-Spiel, hört gern Mozart. Sein einmaliger Versuch, ehrlich und freundlich zu sein, scheitert und endet in einer Katastrophe. Jonas kann seiner Schuld nicht entkommen, weil er sich selbst nicht erkennt. Er vermag es nicht, »Anders(en)« zu sein. Ein Sympathieträger ist dieser »Wiedergeborene« wahrlich nicht.

Lewinskys Coup liegt in der meisterhaften Leichtigkeit seiner Erzählkunst um die Magie des Bösen. Der Leser wird vom Sog des Grauens erfasst und folgt dem unglückseligen Jonas bis zum bitteren Ende.

Charles Lewinsky: Andersen | Deutsch
Nagel & Kimche 2016 | 396 Seiten | Jetzt bestellen