Bela B. Felsenheimer: ScharnowAus dem Nichts traf ihn plötzlich ein Schlag. Von dem Buch abgelenkt, war er beim Greifen nach dem gerösteten Brot mit den Fingern an das Metallgehäuse des schlecht isolierten Toasters gekommen. Begünstigt durch das barfüßige Schlurfen auf der Kunststoffauslegeware und die trockene Luft in seiner Wohnung schoss die elektrische Ladung durch seinen Körper wie ein Blitz. Wassmanns Interesse an dem Buch erlosch sofort.

Genervt pfefferte er es auf einen Stapel, der neben seinem Frühstücksensemble – einem Becher mit lauwarmem Leitungswasser, einem Schnapsglas mit Olivenöl, Teller, Messer, Kaffee und Marmelade – aufgetürmt war. Er atmete einmal tief durch und nahm am Tisch Platz. Unter Verzicht auf Butter oder einen anderen fettigen Geschmacksträger verteilte er auf dem Toast großzügig die Orangenmarmelade von Tante Jella, deren letztes Glas er soeben, zwei Jahre nach ihrem Tod, geöffnet hatte. Dann nahm er einen Schluck Wasser, um seinen Mund von Ablenkungen zu reinigen, und wartete, so sah es sein Ritual vor, genau fünfzehn Sekunden, damit sich Brot und Aufstrich aufeinander einstellen konnten.

Scharnow ist ein kleines, eher unbedeutendes Dorf nördlich von Berlin. Viele gescheiterte Existenzen und Exzentriker leben dort und ihre Wege kreuzen sich immer wieder zwischen Plattenbauten und Billigdiscounter. Aber dort gibt es noch mehr zu entdecken: Ein mordlüsternes Buch, ein fliegender Mann, eine nackte Räuberbande, den Pakt der Glücklichen und und und …

Die absurde Geschichte von »Scharnow« lässt sich kaum nacherzählen, und über Wahrscheinlichkeiten sollte man besser gar nicht erst sprechen. Die Figuren sind grotesk überzeichnet und so zahlreich, dass das Personenverzeichnis am Anfang des Buches unverzichtbar ist. Und falls dies zwischen den Zeilen nicht so gut lesbar ist: Das Buch ist einfach klasse.

Nicht perfekt, aber immer wieder überraschend, amüsant und völlig abgedreht. Der Autor schüttet großzügig seine privaten popkulturellen Vorlieben über dem armen Ort Scharnow aus. Deshalb tummeln sich dort neben »normalen« Menschen auch Superhelden, Manga-Mädchen und Scharfschützen, und es wird viel über italienische Gore-Filme gefachsimpelt. Manche mögen das bemüht finden, zu gewollt auf Originalität getrimmt. Mir gefällt es, und ich weiß, ich bin nicht allein mit dieser Meinung.

Nebenbei habe ich nie verstanden, wenn Leute skeptisch werden, sobald ein Schauspieler singt oder ein Sänger schreibt. Warum soll man nur ein Talent besitzen? Selbst Leute ohne Talent oder erkennbare Fähigkeiten dürfen sich als Moderatorin und Schmuckdesignerin bezeichnen.

Im Fall von Ärzte-Schlagzeuger Bela B. wäre eine solche Diskussion ohnehin müßig, denn nach wenigen Seiten dürfte auch dem kritischsten Schubladendenker klar sein, was für ein großartiges Buch er in Händen hält. Wäre ich nicht gleichzeitig Ärzte-Fan, würde ich es bedauern, dass der Autor Bela B. sich so lange mit Musik aufgehalten hat.

Gerade ist er übrigens auch als einer der Hauptdarsteller in der sechsteiligen Neuverfilmung von »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« von David Schalko zu sehen, der uns als Regisseur Serien wie »Braunschlag« und »Altes Geld« schenkte und Romane wie »Schwere Knochen«. Ein weiterer Mehrfachbegabter, den man sich merken sollte.

Nach John Nivens »Kill ’em all« schon das zweite herausragende Buch, mit dem uns Heyne Hardcore im noch recht jungen Jahr beglückt.

Bela B. Felsenheimer: Scharnow | Deutsch
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