Alexander Osang: Das letzte EinhornFritz, mein Chefredakteur, sitzt einfach da, liest in seinen historischen Büchern und wartet, dass ihm Recht geschieht. Er hat einst ein Versprechen gegeben, das größer war als das, das er mir in der Oktobernacht gab. Er hat das eine gehalten, indem er das andere brach. So sieht er das, und damit bin ich im Boot. Sein Ja steht in meinem Text für die Ewigkeit. Auch wenn die lebendige Erinnerung längst verloschen ist, hängen Fritz Wengler und ich immer noch zusammen in diesem Text in dieser Zeitung fest. Bestimmte Dinge sind nicht richtigzustellen. (Alexander Osang in der Spiegel-Reportage »Das Versprechen« vom 11.10.2009, enthalten im vorliegenden Band »Das letzte Einhorn«)

Es ist etwas über ein Jahr her, dass mich Alexander Osangs Lebemann Uwe aus seinem letzten Roman so beeindruckt hat, dass es auf diesen Seiten hier »Fast hell« wurde. Inzwischen ist im Ch. Links Verlag (Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG) ein Band mit Spiegelreportagen der letzten zehn Jahre erschienen, der den Titel »Das letzte Einhorn« trägt.

Kokettiert die Überschrift, die der Hommage an Michael Ballack vornweg gestellt ist, als Buchtitel ein wenig mit den »letzten Einhörnern« des Ostens? Was sind das für Menschen, die auf ihre Art die letzten sind? Sind sie tatsächlich die beneidenswerten Ausnahmen, die nicht in die Kategorie passen, in die man den Osten gern einordnen möchte?

Alexander Osang begann seine journalistische Laufbahn in den letzten Tagen der DDR. Das damalige SED-Blatt »Berliner Zeitung« geriet wie die meisten ostdeutschen Zeitungen zum Versuchslabor westdeutscher Verleger. Neue Chefredakteure aus dem Westen rollten ihre Konzepte vom Zeitungsmachen aus und eröffneten das Wetteifern um den Zeitungsmarkt. So findet sich die Geschichte der »Berliner Zeitung« auch in diesem Buch, denn sie ist untrennbar mit der Geschichte des Autors verbunden. Im Mittelpunkt steht diesmal der IT-Unternehmer Holger Friedrich, der die Gazette kaufte, als DuMont sich ihr entledigen wollte.

Gespannt liest man sich durch Reportagen über die Altbundeskanzlerin Angela Merkel, erfährt etwas über das abrupte Karriereende des ehemaligen Kapitäns der deutschen Fußballnationalmannschaft, Michael Ballack, oder die ehemalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry. Man staunt über Osangs früheren Reporter-Kollegen Torsten Preuß, der plötzlich auf Pegida-Demonstrationen spricht, oder bewundert den Truppenkommandeur, der sein Bataillon auf einen Afghanistan-Einsatz vorbereitet. Wieso startet ein Versicherungsangestellter eine Bilderbuchkarriere, um sie später in einem Sexparty-Skandal zu ersticken? Mit welchen unkonventionellen Methoden motiviert ein Jobcenter-Chef aus Brandenburg »seine« Langzeitarbeitslosen? Glanz, Ehre und der tiefe Fall liegen in all den Geschichten nah beieinander. Beste Beispiele: die Geschichte über Jürgen Todenhöfer oder Heiko Maas.

Jede Reportage hat ihren eigenen, ganz besonderen Charme. Sei es der stets an sich zweifelnde Regisseur Leander Haußmann, der trotz der Corona-Pandemie seine »Stasi-Komödie« vollendete oder der einzige Nordkoreaner im IOC, der in Wien lebt. Am Ende kommt auch Christoph Links selbst zu Wort.

Osangs Geschichten gehen unter die Haut, weil man ihre Tiefgründigkeit geradezu spürt. Sie beleuchten das Umfeld, Weggefährten kommen zu Wort. Bewertungen und Urteile sucht man vergebens. Man liest von Begeisterungen, Unfreiheit, Ressentiments und Lebenslügen. Wie erklärt man all die falschen Entscheidungen, die daraus erwachsen am besten?

Der Autor fährt zu den Leuten, besucht sie in ihren Wohnungen, fliegt mit ihnen nach Afghanistan oder begleitet sie auf nervenaufreibenden Dienstreisen. Er sucht nach dem Besonderen, findet Staunenswertes und Einmaliges. Alexander Osangs Porträts wirken offen, ehrlich und zeigen stets das Individuum. Leute mit Charakter, die kämpfen. Leute, die selbst beim Schrittzähler-Tragen ihre Würde behalten. Osang hört zu, legt ihre Wünsche und Träume frei, deckt auf, was sie davon verwirklichen konnten, welche Sehnsüchte sie haben. Deshalb versteht man auch die Verzweiflung, wenn ihnen ihre Möglichkeiten beschnitten oder ganz genommen wurden. Dabei wird der Ort, wo »Die Dinge des Lebens« spielen, zur Nebensache. Man liest Geschichten über Menschen aus Deutschland.

Osangs Sammelband vereint Typen. Typen gefallen mir, vor allem, wenn sie immer wieder aufstehen oder sich nach all ihren Niederlagen noch ein Quäntchen Selbstwert bewahrt haben. Jedes der Porträts lebt genau durch diese Einzigartigkeit, weil jeder Mensch einmalig ist. Insofern ist »Das letzte Einhorn« eine wunderbare Metapher.

Alexander Osang: Das letzte Einhorn | Deutsch
Ch. Links Verlag 2022 | 336 Seiten | Jetzt bestellen