»Ich hatte Angst vor Verlust und Angst vor Anpassung, immer abwechselnd. Angst davor Ostdeutscher zu bleiben, Angst davor, Westdeutscher zu werden.«
Als ich meine journalistische Tätigkeit vor dreißig Jahren begann, habe ich neben regelmäßigen Konsultationen bei meiner Mentorin Feuilletons, Reportagen und Rezensionen in überregionalen Zeitungen und Magazinen regelrecht verschlungen. Ich wollte lernen und mir von den Besten etwas abgucken. Irgendwann stieß ich auf Texte von Alexander Osang. Sein Stil beeindruckt mich bis heute, seine Art zu schreiben, zieht den Leser in den Text und fesselt ihn bis zum letzten Wort.
Vor dem Corona bedingten Lockdown im November des vergangenen Jahres hatte ich in der Magdeburger Stadtbibliothek die Gelegenheit, an einer Lesung mit Alexander Osang zu Themen aus seiner Zeit als Spiegel-Reporter in Israel teilzunehmen. Seitdem habe ich ungeduldig auf sein gerade im Aufbau Verlag erschienenes Buch mit dem Titel »Fast hell« gewartet. Gibt es fern der glatt gebügelten Texte wegen vergangener Jubiläen einen Wende-Roman, der in aller Munde ist und den angeblich schwer zu durchschauenden Ostdeutschen beschreibt?
Das vorliegende Buch hat das Zeug zu einem solchen Klassiker. Osangs Spiegel-Redakteur wollte für das Sonderheft anlässlich des dreißigjährigen Mauerfall-Jubiläums ein Porträt über Angela Merkel.
Alexander Osang wollte lieber über Uwe schreiben und verzichtete auf die Veröffentlichung seiner unfertigen Geschichte im besagten Format. So entstand ein Buch, das neben Schwarz und Weiß auch Grautöne zeigt, differenziert, ohne zu verurteilen.
Uwe hatte Osang auf der Party einer Dresdnerin im New Yorker Stadtteil Brooklyn kennengelernt. Er ist ein Geschichtenerzähler, spricht sieben Sprachen und scheint in jeder Ecke der Welt jemanden zu kennen, bei dem er übernachten kann. Uwe hat Sinologie studiert – ein Novum in der DDR. Seine Erzählungen passen in keine Schublade, lassen jedoch im Kopf des Lesers gestochen scharfe zeitgeschichtliche Bilder entstehen. Der Autor ist mit dem Protagonisten seines Buches nicht eng befreundet, dennoch sind sie sich immer wieder begegnet.
Zusammen mit Uwes Mutter reisen sie mit der Fähre über die Ostsee nach Sankt Petersburg – Alexander Osang als Reporter. Schnell wird deutlich, dass die Geschichte des einen eng mit der des anderen verknüpft ist. Immer wieder reflektiert Osang seine eigene Biografie und ist in seinem Text präsent. Geschickt vermischt er Fakten mit seinen subjektiven Eindrücken und bietet dem Leser Raum für eigene Reflexionen. Uwes Leben mit Ankern für Osangs persönliche Erinnerungen. Die ranken nicht nur um den porträtierten »schillernden Lebemann«. Sie streifen auch die Generation ihrer Eltern, deren Träume und ihr Erwachen in einer unbekannten Gesellschaftsordnung mit wackligem Boden. Es geht um das Leben in der DDR, die Rolle der Staatssicherheit und Flucht. Der Leser wird mit unterschiedlichen Ansichten konfrontiert, erlebt hautnah den Zusammenbruch eines maroden Systems und den Neuanfang im Westen.
Einfühlsam spürt Alexander Osang den Sehnsüchten und Hoffnungen der Ostdeutschen nach und beschreibt an sich selbst zweifelnd die eigene Unruhe und Rastlosigkeit. Osangs spürbare Authentizität und seine großartige Erzählkunst fesseln den Leser an das Geschehen. Man ist nah an des Autors Notizen, aus denen ich, mit Verlaub, keinen »vernünftigen« Text zustande gebracht hätte. (N)ostalgie sucht man in den beiden Lebensabrissen ebenso vergeblich wie den »ewig jammernden Ostdeutschen«. Osangs Buch berührt tief. Seine Sprache ist lebendig und schöpft aus einem reichen, farbenfrohen Fundus. Was Alexander Osang als bekennender Katholik eine »Beichte« nennt, entpuppt sich als spannender Einblick in die jüngste deutsche Geschichte und erhält eine klare Leseempfehlung.
Alexander Osang: Fast hell | Deutsch
Aufbau Verlag 2021 | 237 Seiten | Jetzt bestellen