Young-ha Kim: Aufzeichnungen eines SerienmördersDer Mensch ist ein Häftling, eingekerkert in einem Gefängnis namens Zeit. Ein demenzkranker Mensch ist ein Häftling, eingekerkert in einem Gefängnis, das immer schneller immer kleiner wird. Bis man keine Luft mehr bekommt. (Young-ha Kim in »Aufzeichnungen eines Serienmörders«)

Der südkoreanische Autor Young-ha Kim zählt zu den bekanntesten seines Heimatlandes. Dort erhielt er alle bedeutenden Literaturpreise. Inzwischen wurden seine Romane, Erzählungen und Essays in viele Sprachen übersetzt. Der kleine Cass Verlag aus dem thüringischen Bad Berka gab in diesem Jahr seinen 2013 erschienenen Roman »Aufzeichnungen eines Serienmörders« heraus. Übersetzt wurde er von Inwon Park.

Ein Verbrecher schreibt seine Geschichte auf. Was ist jedoch an seinen Notizen wahr, wenn ausgerechnet er an Alzheimer erkrankt? An wieviel erinnert er sich? Was ist bereits dem Chaos im Kopf zum Opfer gefallen? Der ehemalige Veterinär Byongsu Kim lebt in einem Dorf in Südkorea. Er ist siebzig Jahre alt, als bei ihm eine schnell fortschreitende Demenz diagnostiziert wird. Gegen die verblassenden Seiten in seinem Lebensbuch beginnt er seine Erinnerungen aufzuschreiben.

Bereits am Anfang fällt ihm die zeitliche Einordnung seines letzten Mordes schwer. Nach einem Autounfall und zwei Hirnoperationen endete seine Karriere als Serienkiller. Zuvor hatte er die Eltern des Mädchens getötet, das er von da an als seine Tochter betrachtet. War das vor fünfundzwanzig oder doch vor sechsundzwanzig Jahren? Gegen das Vergessen hilft er sich mit unzähligen Klebezetteln und einem Diktiergerät. Rote Punkte im Kalender sollen ihn an die Medikamenteneinnahme erinnern. Kims Gedanken reißen in immer kleinere Schnipsel. Klare Erzählstruktur? Fehlanzeige. Mitten im Durcheinander der Leser, der zwischen dem Erwachen der Vergangenheit, dem gegenwärtigen Wirrwarr und Kims schwindendem Zukunftsgedächtnis hin- und hergerissen wird. Spätestens als der Alte seinen letzten Mord plant, legt man das Buch nicht mehr aus der Hand.

Byongsu Kim will seine Tochter Unhi vor einem Frauenmörder schützen, der in der Region sein Unwesen treibt. Stimmt dies überhaupt? Ist Unhi wirklich seine Tochter? Bei einem Auffahrunfall trifft er erstmals auf seinen vermeintlich mordenden Kollegen. Aug in Auge erkennt Kim in ihm den Rivalen. Er muss ihn töten, bevor sein Gedächtnis ganz verschwindet. Unhi kommt immer öfter spät in sein Haus neben dem Bambushain, der ihm helle, schöne Lieder zuraunt. Irgendwann stellt sie ihrem Vater den neuen Freund vor. Kim erschrickt, weil er in ihm den Gleichgesinnten sieht. Doch der hier ist Polizist! Welche Rolle spielt Kommissar Ahn? Gibt es ihn überhaupt?

In Young-ha Kims Geschichte über einen brutalen Mörder geht ein ganzer Fächer an Farbschattierungen auf: sein Protagonist will die Tochter schützen, den Nebenbuhler bezwingen und bei klarem Verstand bleiben. Seine leicht ironische, zum Teil sarkastisch treffsichere Sprache lassen das Lesen zu einem (wenn auch kurzen) spannungsgeladenen Erlebnis werden.

Für seinen letzten geplanten Mord will Kim sein altes Leben zurück. Doch seine Krankheit legt ihm immer mehr Fallstricke aus. Byongsu Kims unbedingter Erinnerungswille scheint auf taube Ohren zu treffen. Was die Polizisten ermitteln und was er wahrnimmt, driftet weit auseinander. Während sich das Leben vor seinen Augen auflöst und er in eine Parallelwelt entschwindet, gewinnt der Leser immer dramatischere Einsichten. Die lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. »Beängstigend ist nicht das Böse, sondern die Zeit. Denn gegen die sind wir alle machtlos …«, stellt Kim am Ende fest, als die übergroßen Seitenzahlen des Büchleins langsam verblassen. Letztere punkten ebenso als feines buchgestalterisches Mittel wie die rot-ausbleichenden Satzfetzen auf dem grauen Hardcover und die originelle Graphik auf dem roten Schutzumschlag.

Edit: Beim Rezensionswettbewerb des Koreanischen Kulturzentrums gewann diese Besprechung von Renate Bojanowski den 3. Platz.

Young-ha Kim: Aufzeichnungen eines Serienmörders | Deutsch von Inwon Park
cass Verlag 2020 | 152 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen