Wolf Haas kann mehr als nur den Brenner, und »Junger Mann« ist sein vierter literarischer Ausflug jenseits des österreichisch-schwarzhumorigen Ermittlers. Während man sofort von Haas‘ typischem und einzigartigen Schreibstil gefesselt ist, braucht es jedoch einige Zeit, sich mit dem Inhalt anzufreunden: Sich in einen jugendlichen Verschrobenen hineinzuversetzen, der dem lokalen Haudrauf die Ehefrau ausspannen will, birgt nicht eben viel Identifikationspotential. Doch nach der Hälfte nimmt die Geschichte mehr als nur eine unerwartete Wendung und fesselt und berührt bis zuletzt.
Mit erst zwölf, dann 13 Jahren übergewichtig und in Elsa verliebt, die jedoch mit Tscho verheiratet ist: keine Basis für eine Erwachsenenlektüre, mag man meinen, denn mit Adoleszenz und Pubertät will man, je länger beides her ist, umso weniger zu tun haben. Ja, die Zeit war peinlich, und wenn man ein pickeliger Außenseiter war, desto mehr, und wenn ein alternder Autor plötzlich von juvenilem Hormonstau fantasiert – ohnehin eine Unart bei in die Jahre kommenden männlichen Künstlern, dass sie bisweilen irgendetwas zwischen frivol, schlüpfrig und vulgär werden –, möchte man daran außerdem eher weniger teilhaben. Warum also sollte man sich ein Buch antun, in dem es zunächst genau darum geht? Weil es von Wolf Haas ist.
Der Schreibstil des Wieners ist einzigartig. Haas etablierte ihn mit seinen als Krimis etikettierten Romanen um den Ermittler Simon Brenner, in denen er seine fragmentarischen Unsätze ausgiebig anwandte. Seine Sprache lässt Lücken, die man als Lesender selbst anzufüllen hat, und sie vermittelt den Eindruck, den Text, den man gerade liest, von einem Freund erzählt zu bekommen, scheinbar verwaschen, schludrig, ungenau, und in jede Unkorrektheit bringt Haas gleichzeitig Humor unter, gerade weil er die Sprache so eigensinnig anwendet. Haas schreibt quasi Jazz, in den Leerstellen liegt der Inhalt, und in »Junger Mann« verfährt er ebenso, nur nicht ganz wie bei der Figur, die er die Brenner-Abenteuer erzählen lässt, denn deren Wortlaut ist individuell, aber den Stil findet man auch hier wieder. Als Autor muss man die Sprache schon beherrschen, um sie überzeugend auf diese spielerische Weise anzuwenden.
Und dieser Stil trägt den Lesenden auch durch die Lebensrealität eines bald Dreizehnjährigen. Dieser ist namenlos, wenngleich an einer Stelle offenbar wird, dass der Vater den Nachnamen Haas trägt; kein seltener Kniff, eine Geschichte pseudoautobiografisch anzusetzen, aber auch nicht weiter relevant für die Wirkung. Der Junge nun arbeitet in den Siebzigern in Österreich an einer Tankstelle, an der der Fernfahrer Tscho – die alpine Aussprache des englischen Joe muss man als Norddeutscher ahnen – regelmäßig mit seinen diversen Vehikeln zum Palaver mit dem Tankwart vorbeikommt. Eines Tages erblickt der Junge in Tschos Auto dessen Ehefrau Elsa, die den Teenager fortan um den Finger wickelt. Ehrlich: Die amourösen Fantasien des schüchternen Pennälers muss man schon aushalten, die Beinahe-Erwischt-Situationen mit Tscho ebenfalls; solche Geschichten erzeugen nicht mehr wirklich Spannung, da muss man durch.
Das ändert sich abrupt, als Tscho den Jungen wegen dessen Englischkenntnissen mit auf Fernfahrt ans Mittelmeer nimmt. Dabei legt Haas sowohl für den Jungen als auch für den Lesenden falsche Fährten, mit irgendwelchen Illegalitäten und Seitensprüngen in Südeuropa, im Balkan, sonstwo, die er erst im Verlauf mit einer schwergewichtigen Erläuterung aufklärt und in etwas beinahe Märchenhaftes münden lässt. Was der Junge nun erlebt, verändert ihn, lässt ihn reifen, setzt ihn in Bewegung, und im Verbund mit den Abenteuern, die er und Tscho auf ihrer Irrfahrt erleben, bekommt das ganze Drama nicht nur Wucht und Tiefe, sondern auch noch Action und Emotionen. Am Ende freut man sich, dass man das Buch trotz anfänglich problematischer Identifikation nur aufgrund der Sprache nicht aus der Hand legte.
»Junger Mann« ist der vierte Roman, den Haas abseits der acht Brenner-Fälle veröffentlichte. Nach dem im Rennsport angesiedelten »Ausgebremst« wich er vom Krimi-Genre ab: »Das Wetter vor 15 Jahren« dürfte eines der brillantesten Literaturexperimente überhaupt sein, »Verteidigung der Missionarsstellung« erzählt ebenfalls auf ungewöhnlich strukturierte Weise eine Beziehungsgeschichte. Dagegen wirkt »Junger Mann« etwas wie eine Fingerübung, aber da sie von einem derart begabten Erzähler kommt, gibt man sich ihr gern hin.
Wolf Haas: Junger Mann | Deutsch
Hoffmann & Campe 2018 | 240 Seiten | Jetzt bestellen