Sämtliche Stories in der »Mitternachtspost« waren der Phantasie dieses einen Redakteurs entsprungen – Hip O’Hopp, ein alternder Zeitungsmann, den ich noch nie nüchtern erlebt hatte. Er schaute über die Trennwand zwischen unseren Kabuffs zu mir herüber.
»Kannst du mir eine Story zusammenhauen über eine Frau, die einen Wurf Welpen zur Welt bringt?«
»Bis wann brauchst du sie?«
»Bis um fünf.«
Ich machte mir eine Notiz auf meinen Block, Frau – Geburt – Welpen, und legte sie neben die anderen Dinge, die heute zu erledigen waren: Als Dr. Howard Husband, M.D., musste ich meine medizinische Kolumne für ›Die Dame‹ schreiben, unsere Frauenzeitschrift, die in mehr Fertighäusern und Wohnwagenparks gelesen wurde als jedes andere Blatt. Nach Husbands‘ kurzem Auftritt musste ich mich in Dr. Doris verwandeln und meine Sexkolumne herunterhämmern.
Der Roman »Mitternachtspost« handelt von einer Zeitungsredaktion, die gleich dutzendweise Schundblätter für gesellschaftliche Randgruppen herausbringt. Nach eigener Aussage sitzen die meisten Abonnenten in Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken. Jeder Redakteur schreibt unter verschiedenen Pseudonymen für mehrere Blätter, wie das Söldnermagazin »Macho«, oder »Offenbarung«, die Zeitschrift für den religiösen Extremisten.
Absolut alles, was den Redakteuren widerfährt, wird sofort in eine Schlagzeile verwandelt und dann dem entsprechenden Magazin zugeordnet: »Vibrator läuft Amok, verstümmelte Frau klagt vor Gericht« oder »Hängematten-Vertreter wird König eines Dschungelstamms«. Jeder, der ihnen begegnet, wird für die verschiedenen Magazine eingespannt, auch eine unschuldige, männliche Bürohilfe:
Früher oder später würde das Antlitz des jungen Mannes bei jedem einzelnen von uns auf dutzendfache Weise Verwendung finden – als Axtmörder bei Celia, als unbedarfter Praktikant in Hatties »Bekenntnisse junger Schwesternhelferinnen«, als neuentdecktes, geheimnisumworbenes Teenageridol bei Yvonne, als junger Fischer bei Hip, der einen von seinen Killerhaien auf ihn losließ (in jeder Ausgabe gab es einen), und am Schluss würde ich ihn zum Bräutigam einer Pygmäin machen.
Nicht selten müssen auch die Redakteure selbst in Verkleidung mit falschen Bärten und Perücken für die Sensationsbilder zu den Artikeln herhalten.
Im ersten Viertel des Buches wird die exzentrische Redaktion und ihr turbulenter Tagesablauf vorgestellt. Immer auf der Flucht vor dem Verleger und seinem Blasrohr, mit dem er angeblich vergiftete Pfeile verschießt. Und danach geht es erst richtig los. Während einer Party in der Wohnung des Chefredakteurs Howard Halliday taucht die bekannte Pornodarstellerin Mitzie Mouse auf. Sie trägt nur ihre Berufskleidung, sehr zur Freude von Illustrator Fernando, der gerade dabei ist, Howards Wohnzimmerwand mit einem neun Quadratmeter großen Akt zu bedecken. Mitzie hat bei Dreharbeiten auf ihren Boss, den Mafiosi Tony Baloney, geschossen und ist anschließend geflohen. Die Redakteure bieten ihr Unterschlupf und rüsten sich mit Blasrohr, Bumerang und Angelrute für das Eintreffen der Mafia.
»Mitternachtspost« ist ein extrem lustiger Roman, der von witzigen Dialogen und Situationskomik lebt. Im Mittelteil zerfasert die Handlung etwas und es dauert viele ziellose Seiten, bis das Buch wieder auf Kurs ist. Wer dies durchhält, wird mit einem irrwitzigen Showdown in der Villa des Mafiabosses belohnt.
William Kotzwinkle war in den Achtzigern und Neunzigern in Deutschland sehr populär und hat einige Romane verfasst, die heute noch Kultstatus haben, wie »Fan man« und »Dr. Ratte«. Zuletzt erschien von ihm auf deutsch ein (leider sehr schwacher) Science-Fiction-Roman. Sein Werk ist sehr vielseitig und abwechslungsreich. Seine größten Erfolge waren das Buch zum Film »E.T.« und der Roman »Ein Bär will nach oben«.
William Kotzwinkle: Mitternachtspost | Deutsch von Walter Hartmann
Rowohlt 2002 | 203 Seiten | Jetzt bestellen