Walter Tevis: Das DamengambitIhr Verstand leuchtete, und ihre Seele sang im süßen Takt der Schachzüge. Im Klassenzimmer roch es nach Kreidestaub, und ihre Schuhe quietschten, als sie die Reihe der Spieler abging. Es war still im Raum; sie konnte ihre eigene Präsenz im Raum spüren, klein und kompakt und gebieterisch. Draußen zwitscherten die Vögel, doch die hörte sie nicht.

Zugegeben: Ich bin kein Serien-Fan. Demzufolge habe ich die von Scott Frank und Allan Scott entwickelte US-amerikanische Drama-Miniserie »Das Damengambit« nicht gesehen. Weil sie jedoch monatelang nach ihrer Erstausstrahlung immer noch in aller Munde war und der Diogenes Verlag im vergangenen Jahr Walter Tevis‘ Buchvorlage von 1983 erstmals in deutscher Sprache herausgab, entschloss ich mich zum Lesen des Romans. Das gestaltete sich äußerst spannend und unterhaltsam.

Nach dem Tod ihrer Mutter kommt die achtjährige Elisabeth »Beth« Harmon als Waisenkind in das Methuen-Kinderheim im US-Staat Kentucky. Die tägliche Einnahme von Tabletten gehört dort zur Routine. Zur Beruhigung der Heiminsassen werden auch »magische Vitamine« verteilt. Wie werden deren halluzinogene Nebenwirkungen das weitere Leben der Protagonistin bestimmen? Findet sie einen Weg aus der Abhängigkeit?

Als Beth eines Tages den Tafelwischer im Keller reinigen soll, sieht sie den Hausmeister Mr. Shaibel über einem ihr unbekanntes Brettspiel grübeln. Beth ist fasziniert und bittet ihn so lange, ihr die Spielregeln zu erklären, bis er zögernd und nur widerwillig zustimmt. Nach nur wenigen Partien kristallisiert sich Beth‘ Überlegenheit heraus. Mr. Shaibel stellt seine talentierte Gegnerin Mr. Ganz vom Schachklub der Highscool vor. Dort soll sie simultan gegen zwölf Jungs spielen. Beth gewinnt alle Partien. Eine Gesetzesänderung verbietet inzwischen der Heimleitung die Verabreichung von Beruhigungsmitteln. Beth‘ Versuch, sich einen Vorrat anzulegen, scheitert und endet mit einem Schachverbot.

Einige Jahre später wird Beth von Alma und Allston Wheatley adoptiert. Bald darauf trennt sich das Ehepaar. Beth‘ Missbrauch von Tabletten und Alkohol hat bereits Spuren hinterlassen. Eines Tages entdeckt sie eine Anzeige für das Schachturnier um die Landesmeisterschaft in Kentucky. Um teilnehmen zu können, stiehlt sie sich das Startgeld zusammen. Mit nur dreizehn Jahren gewinnt sie dieses Turnier und wird Landesmeisterin. Drei Jahre später teilt sie sich die amerikanische Meisterschaft mit Benny Watts. Gelingt ihr der Coup, gegen den russischen Weltmeister Vasily Borgov zu spielen und zu gewinnen, oder unterliegt sie ihrer Tabletten- und Alkoholsucht?

Walter Tevis‘ Geschichte strotzt nur so vor Erzählkraft und wartet auch noch knapp vierzig Jahre nach seinem Erscheinen mit aktuellen Themen auf. Beth stört es, dass sie in erster Linie als Frau wahrgenommen wird. Tatsächlich wird die Schachwelt bis heute von Männern dominiert. Großartig, wie Walter Tevis ihre Emanzipation in dieser speziellen Welt beschreibt. Gleichzeitig trotzt die junge Heldin dem harten Waisenhausalltag und freundet sich mit der dunkelhäutigen Jolene an, die es allein schon wegen ihrer Hautfarbe schwerer hat und später ihre beste Freundin wird. Tevis entwickelt seine Hauptfigur subtil und glaubwürdig, zieht die LeserIn mit in ihren Abgrund und lässt sie ihre Triumpfe mitfeiern.

Wenn man die Regeln des Schachspiels nicht kennt, überwiegt dennoch die Freude an den ebenso lebendigen wie authentischen Beschreibungen der Wettbewerbsatmosphäre. Mit dem Ticken der doppelzifferblättrigen Schachuhr im Ohr möchte man als Laie nach zahlreich kommentierten und analysierten Eröffnungsvarianten das königliche Spiel näher kennenlernen. Wer wie ich das »Figurenrücken« beherrscht, greift automatisch zu einer Schach-Enzyklopädie, studiert das Läufer-Fianchetto und staunt über stundenlange, sorgfältige Partieanalysen.

Zug um Zug kämpft sich Beth bis zum Einladungsturnier nach Moskau. Wer sich bis zu diesem Punkt hin und wieder eine Leseunterbrechung gegönnt hat, jagt während ihrer Begegnung mit dem Weltmeister Borgov zwangsläufig rasanten Fluges durch die Seiten. Dass am Ende keiner der beiden Könige auf dem Brett liegt, hat einen besonderen Grund. Das spannungsgeladene Drama um das Spiel der Könige wurde von Gerhard Meier ins Deutsche übertragen.

Walter Tevis: Das Damengambit | Deutsch von Gerhard Meier
Diogenes 2021 | 416 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen