Victor Bockris: Lou Reed - TransformerAls Lou Reed im Alter von siebzehn Jahren seine Familie mit extremen Stimmungsschwankungen und aufblühender Homosexualität an den Rand des Wahnsinns gebracht hatte, suchte diese die Lösung in einer »Gesundheitsmaßnahme«, die damals, Ende der 1950er Jahre, noch oft angewandt wurde: Elektroschocks. Und bei der Dosierung wurde nicht differenziert: Jeder bekam die volle Dröhnung, unabhängig von Alter, Statur oder Geschlecht. Man muss kein Prophet sein, um sich ausmalen zu können, welche desaströsen Folgen eine solche »Therapie« für einen schmächtigen jungen Mann haben kann. Vielleicht lässt sich aufgrund dieser Vorgeschichte so manche Verhaltensweise der späteren Rockikone in einem differenzierteren Licht betrachten.

Im kulturellen Szenetempel der Stunde, der sogenannten Factory, in der ein gewisser Andy Warhol das Zepter schwang, stieg eine sich dem Mainstream völlig verweigernde Band auf, um mit ihrer extrovertierten Anti-Establishment-Musik das amerikanische Spießbürgertum in Rekordzeit auf die Palme zu bringen und im weiteren Verlauf schlicht Musikgeschichte zu schreiben: The Velvet Underground.

Hier spielte Lou Reed Gitarre und sang. Und hier nahm im Wesentlichen seine Karriere ihren Anfang, eine Karriere, die reich an sexuellen Anzüglichkeiten, aber auch an großartiger Musik ist. Wer kennt nicht das legendäre »Walk on the wild side«, sein größter Hit, der sich textlich mit der amerikanischen Transsexuellenszene befasst und in der Lou Reed Protagonisten auftreten ließ, die es wirklich gegeben und die er auch selber gekannt hat.

Lou Reed hatte offenbar ständig das Bedürfnis, seine Umgebung zu provozieren und zu verstören. Ihm wurde nachgesagt, dass er sehr gerne Menschen, die ihm nahestanden, möglichst eng an sich band, um sie dann umso effektiver verletzen zu können. Vielleicht ein Charakterzug, der durch die erwähnte Elektroschockbehandlung ausgelöst wurde? Wir werden es nie erfahren. Seine Stimmungen waren ein permanentes Auf und Ab. Am Ende des Buches konnte ich mir selbst die Frage nicht beantworten, ob mir dieser Mensch sympathisch oder unsympathisch ist.

Die Extreme seiner Persönlichkeit, die sich sowohl in seinem Sozial- als auch in seinem Sexualverhalten manifestierten, spiegeln sich in seiner Musik wider. Kaum ein Album gleicht dem anderen. Wenn seine Plattenfirma gehofft haben sollte, dass er einen plötzlich eingeschlagenen radiokompatiblen Weg weiterverfolgen würde, konnte man sicher sein, dass er aus purer Boshaftigkeit (oder Genialität?) ein völlig konträres Album hinterherschob.

Sein Backkatalog umfasst so unterschiedliche Alben wie »Transformer« (inklusive »Walk on the wild side«), die kommerziellen Selbstmord herausfordernde Scheibe »Metal Machine Music« (eine reine Krachorgie), »Songs for Drella« (eine Hommage an seinen verstorbenen Mentor Andy Warhol) bis hin zum kopflastig, avantgardistischen Schlusspunkt »Lulu«, das er, bereits gesundheitlich angeschlagen, mit den Jungs von Metallica einspielte und das in der Metal-Szene für heftige Irritationen sorgte. Wen wundert es …

»Transformer« ist ein sehr ausführliches Buch. Wer sich intensiv mit Lou Reeds Leben und Werk auseinandersetzen möchte, liegt hier genau richtig.

Victor Bockris: Lou Reed: Transformer – Die exklusive Biografie | Deutsch
Hannibal Verlag 2014 | 560 Seiten | Jetzt bestellen