Unten in der Küche löffelte ich einen kühlschrankkalten Joghurt, klatschte mir Wasser ins Gesicht. Ich trat auf den Balkon hinaus und lauschte dem Rauschen, Schnurren und Glucksen der Stadt. Diese abgrundtiefe Gleichgültigkeit der Nacht gegenüber der persönlichen Schlaflosigkeit. Auf unserem Küchentisch lag eine als Spieluhr verkleidete Paketbombe, und draußen schlief die Welt.
Der Schweizer Autor Urs Richle arbeitet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit seit 2006 als Ingenieur im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte an der Universität Genf. Außerdem unterrichtet der Informatiker Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut der Hochschule der Künste Bern. Seine Erfahrungen aus der computertechnischen Welt stützen die Authentizität seines Thrillers »Anaconda 0.2«, der 2016 im Züricher Limmat Verlag erschien.
Das dem Buch vorangestellte Zitat »Language is a virus« von William S. Burrough wird nach nur wenigen Seiten sprichwörtlich zum Programm. Vom Erzählfluss mitgerissen, wird der Leser in eine digitale Unterwelt entführt, der er möglichst schnell wieder entkommen möchte. Vom Ereignis, um das sich die Geschichte rankt, ganz zu schweigen! Wie von einem Virus infiziert, windet sich der Bücherwurm um die Fragen: Was geschieht mit einer Familie, wenn ein Kind stirbt? Wie fühlt es sich an, seinen Sohn mehrfach verloren zu haben? Müssen wir uns vor unseren Kindern fürchten? Was hinterlassen wir ihnen für eine Welt?
Während einer Demonstration gegen die Allmacht der Banken wird der knapp zwanzigjährige Leo von einem Hartgummigeschoss der Polizei getroffen. Dabei wird er schwer verletzt, fällt ins Koma, stirbt kurze Zeit später im Krankenhaus und lässt seine Familie schockiert zurück. Aus der Sicht des Vaters beginnt eine schmerzliche Suche nach dem verlorenen Sohn. Leo hatte sich im Streit vom Elternhaus gelöst.
Beim Aufräumen seines ehemaligen Zimmers findet der Vater eine antike Spieluhr aus dem 18. Jahrhundert. Jene »Grande Dame« aus den Gebeinen der Geliebten des Uhrmachers Jean-Luis Sovary aus Richles Roman »Das taube Herz« versteckt im Innern eine gewöhnliche Paketbombe. Was hatte seinen Sohn derart verändert, dass ein stummer Sprengkörper zurückbleibt?
Die Recherche von Leos Vater führt ihn in anarchistische Kreise bis hin zur Gruppe »Liberact«, die die mafiösen Manieren eines Nahrungsmittelkonzernes offenlegen will. Die Wahl der Waffen: Spionage – Computerviren – Mord. Erinnerungen an die Globalisierungsgegner von Attac werden wach, die während ihrer Arbeit an einem Buch über Nestlé 2008 von einer Securitas-Mitarbeiterin im Auftrag des Schweizer Konzern-Riesen unterlaufen und ausspioniert wurden.
So besessen wie Leos Vater an der Vergangenheit verzweifelt, verfolgt die Mutter das Gesicht hinter dem Mann, der das Hartgummigeschoss auf ihren Sohn abgefeuert hat. Sie möchte um jeden Preis den Prozess gegen seinen Mörder. Leos illegaler und konspirativer Kampf als Hacker und Demonstrant entwickelt sich als bittere und schmerzvolle Auseinandersetzung zwischen den Eltern, deren Weg aus der Trauer in völlig unterschiedliche Richtungen führen. Die folgenschwere Auseinandersetzung, die selbst Leos Schwestern vereinsamen lässt, beleuchtet die nicht wieder gut zu machenden Schäden unserer Umwelt und Gesellschaft aus Schwindel erregenden Perspektiven.
Wie Richles Figuren in der Geschichte über die Mittel und Wege der Big-Data-Welt fachsimpeln, lässt einen das Blut in den Adern gefrieren. Hinter dem Eisernen Vorhang seines Fachwissens öffnet sich für den Leser eine besorgniserregend tiefe Schlucht.
Äußerst gelungen verstrickt der Autor Perspektiven und Wendungen zu ungeahnten Dimensionen. Man gerät in den Strudel künstlicher Algorithmen und findet ob des Tempos, die die Ereignisse aufnehmen, nicht mehr heraus. Der Rezipient bleibt am Ende eventuell verstört und benommen zurück. Die Begeisterung über einen durchweg lesenswerten Thriller wird lange nachwirken.
Urs Richle: Anaconda 0.2 | Deutsch
Limmat 2016 | 200 Seiten | Jetzt bestellen